Die Sonne scheint, die Menschen kaufen ein und gehen spazieren, Straßenbahnen, Busse, Taxis und private Autos fahren: Vom Konflikt mit dem Nachbarland Kosovo ist in Serbiens Hauptstadt Belgrad vordergründig nichts zu spüren. "Es wird schon nichts passieren", erklärt die 30-jährige Svetlana, die gerade aus dem Urlaub an der kroatischen Küste zurückgekehrt ist, gegenüber der DW: "So machen das die Politiker hier auf dem Balkan doch seit über 20 Jahren immer wieder: Sie provozieren ein bisschen, rudern dann aber zurück, bevor es wirklich richtig heiß wird wie damals 1999."
Im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts hatte der damalige serbische Machthaber Slobodan Milosevic den Konflikt zwischen der serbischen Staatsmacht und der albanischen Bevölkerungsmehrheit - ca. 90 Prozent der Bevölkerung - in der damals zu Serbien gehörenden Provinz Kosovo eskaliert. Serbische Sicherheitskräfte verübten Massaker und vertrieben hunderttausende Nicht-Serbinnen und Nicht-Serben, wie bereits 1991-95 in Kroatien und 1992-95 in Bosnien und Herzegowina. Um Schlimmeres zu verhindern, griff das nordatlantische Verteidigungsbündnis NATO ein und vertrieb Serbiens Polizei und Militär aus Kosovo.
Mit den Sicherheitskräften flohen auch viele serbische Zivilisten aus der Region. Es folgte knapp ein Jahrzehnt, in dem Kosovo von den Vereinten Nationen verwaltet wurde. Zudem steht seit dem Krieg 1999 eine starke NATO-Schutztruppe im Land. Doch der gelang es nicht, die verbleibende serbische Minderheit zu verteidigen, als albanische Mobs 2004 deren Wohngebiete, Kirchen und Kultureinrichtungen angriffen. Viele weitere Serben verließen Kosovo.
2008 erklärte das Parlament in der Hauptstadt Pristina die ehemalige serbische Provinz für unabhängig. Doch die meisten Angehörigen der verbleibendenden serbischen Minderheit - ca. 5 Prozent der Bevölkerung - boykottierte die Abstimmung. Im Norden Kosovos, wo Serbinnen und Serben die Bevölkerungsmehrheit stellen, ist der kosovarische Staat bis heute de facto machtlos. Und die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der serbischen "Enklaven" im Süden des Landes verlassen ihre Siedlungen nur unter NATO-Schutz.
"Kosovo? Das ist weit weg", antwortet der Kellner im Restaurant im Stadtzentrum auf die Frage des DW-Reporters. Und nein, er glaube nicht, dass es zu einer erneuten Eskalation zwischen dem serbischen Staat und der Ex-Provinz kommt. Aber so richtig wissen könne man das auch nicht: "Die Albaner unterdrücken unsere Landsleute in Kosovo", so der Mann weiter. "Klar, dass die sich dagegen wehren. Und klar, dass wir sie unterstützen müssen, schließlich sind sie Serben wie wir. Und Kosovo ist und bleibt ein Teil Serbiens."
So sieht das auch Aleksandar Vucic, in den 1990ern serbischer Ultranationalist und Minister unter Milosevic, seit 2008 führendes Mitglied der national-konservativen Serbischen Fortschrittspartei SNS und seit 2017 Präsident Serbiens. "Das Regime in Pristina" - gemeint ist die gewählte Regierung der Republik Kosovo unter Premier Albin Kurti - habe entschieden, den Serben in Kosovo "Dinge aufzuoktroyieren, zu denen es kein Recht hat".
Tatsächlich erkennt Serbien Ausweisdokumente und Autokennzeichen aus Kosovo nicht an. Kosovarische Reisende müssen sich bei der Einreise nach Serbien Ersatzpapiere ausstellen lassen und alle Hoheitszeichen der Republik Kosovo an ihren Fahrzeugen überkleben. Seit 2021 müssen auch serbische Hoheitszeichen bei der Einreise nach Kosovo auf gleiche Weise unsichtbar gemacht werden. "Reziprozität", also Gegenseitigkeit, nennt das die kosovarische Regierung.
Der aktuelle Streit begann Ende Juni 2022 mit der Ankündigung der Regierung Kurti, das Reziprozitätsprinzip nun auch auf serbische Ausweispapiere anwenden zu wollen und zudem Autobesitzer im serbisch dominierten Norden Kosovos zu zwingen, die von ihnen bisher verwendeten serbischen Autokennzeichen gegen kosovarische auszutauschen. Autobesitzern, die dies verweigern, droht nach serbischen Angaben die Beschlagnahmung ihrer Fahrzeuge. Aus Protest gegen diese Maßnahmen errichteten Kosovo-Serben am 31. Juli 2022 Barrikaden an verschiedenen Grenzübergängen. Nach albanischen Angaben fielen auch Schüsse.
"Ich bin schon ein bisschen nervös", erklärt die Obstverkäuferin auf dem Kalenic-Markt in Belgrad gegenüber der DW. "Bei uns ist es zwar seit 1999 friedlich - aber in der Ukraine herrscht seit Monaten Krieg, und wer weiß, ob sich der nicht bis zu uns ausweitet." Wie soll das funktionieren? Kosovo und Serbien sind weit entfernt von der Ukraine und Russland. Zudem stehen in Kosovo alleine rund 4000 NATO-Soldaten und alle Nachbarländer Serbiens mit Ausnahme von Bosnien und Herzegowina sind Mitglieder des Verteidigungsbündnisses. Die Frau schaut etwas verdutzt auf die Nachfrage des DW-Reporters. Dann sagt sie: "Russland war schon immer unser Verbündeter und würde uns sicher auch diesmal helfen."
Das scheinen wichtige Funktionäre der serbischen Regierungspartei SNS ähnlich zu sehen. Nicht nur, dass einige von ihnen offen Sympathie für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigen. Der SNS-Abgeordnete Vladimir Djukanovic benutzte am 31. Juli 2022 auch den Begriff "Entnazifizierung" in Zusammenhang mit der Regierung der Republik Kosovo. Die "Entnazifizierung" der Ukraine ist eines der erklärten Kriegsziele Russlands.
Hat die Verkäuferin auf dem Kalenic-Markt angesichts der Situation an der Grenze zu Kosovo Angst vor einem neuen Krieg auf dem Balkan? "Wenn wir hier eins in den vergangenen 30 Jahren gelernt haben", antwortet sie, "dann ist es das: Grund zur Angst haben wir immer".