Die Balkanroute hat sich seit der Flüchtlingskrise 2015 immer weiter auf das Territorium der Republik Bosnien und Herzegowina verlagert. Weil die im Flachland liegenden Grenzen Serbiens zu den EU-Staaten Ungarn und Kroatien für Migranten auf dem Weg von Griechenland in den reichen Westen und Norden der EU quasi geschlossen wurden, versuchen immer mehr von ihnen ihr Glück über die Berge an der bosnisch-kroatischen Grenze.
Die genaue Zahl der Menschen aus Afghanistan, Marokko, Pakistan, Syrien und anderen Kriegs- und Krisenstaaten, die sich zur Zeit in Bosnien aufhalten, ist unbekannt. Die EU geht von 8000 Migranten aus, lokale Hilfsorganisationen meinen, dass es eher 12.000 sind. Einig sind sich alle Helfenden, dass die Kapazitäten an Unterkünften, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung in dem 3,5-Millionen-Einwohner-Land nicht ausreichen, um sie auch nur ansatzweise zu versorgen.
Ende Dezember war die Lage in Westbosnien nahe der kroatischen Grenze eskaliert: Nachdem die ausländischen Mitarbeiter das Flüchtlingslager "Lipa" verlassen hatten, da die bosnischen Behörden die Anlage nicht winterfest gemacht hatten, kam es dort zu einem Brand. Seitdem campieren ca. 1.300 Migranten bei Minustemperaturen in leerstehenden Gebäuden ohne Heizung oder gar im Freien. Die 20 beheizbaren Zelte, die die bosnische Armee Ende vergangener Woche zur Verfügung gestellt hat, reichen bei weitem nicht aus, um sie unterzubringen. Zudem sind die laut einem vertraulichem "Situationsbericht" der EU-Kommission, den die Tageszeitung Die Welt am vergangenen Freitag (15.01.2021) veröffentlichte, in mangelhaftem Zustand.
Angesichts dieser desolaten Lage stellt sich die Frage: Was ist eigentlich mit den 90 Millionen Euro passiert, die die EU seit 2017 zur Unterstützung der Migranten in Bosnien gezahlt hat? Zuständig für die Verteilung der EU-Finanzhilfe für Bosnien ist die Internationale Organisation für Migration IOM. Nach Angaben des IOM-Büros in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo sind seit 2017 insgesamt 76.851.217 Euro aus Brüssel eingegangen. Von dieser Summe wurden bis Ende vergangenen Jahres (2020) 51.560.327 Euro ausgegeben.
"Überwacht werden die Budgets von einem Ausschuss, der regelmäßig tagt," erklärt für die DW Edita Selimbegović, IOM-Sprecherin in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Dem Ausschuss gehören Vertreter der EU-Delegation in Bosnien, des bosnischen Sicherheitsministeriums, der Grenzpolizei, der Ausländerämter, der seit langem in Bosnien aktiven Hilfsorganisation Dänischer Flüchtlingsrat (Danish Refugee Council, DRC) und der IOM an. "Das ist auch das Forum, wo Änderungen an den ursprünglichen Budgets diskutiert und entschieden werden, wenn sich die Bedürfnisse vor Ort ändern", so Selimbegović.
Um sicherzustellen, wer die Verantwortung für welches Budget trägt, und Transparenz beim Umgang mit den EU-Geldern zu gewährleisten, legt die IOM dem bosnischen Sicherheitsministerium und der EU-Delegation alle drei Monate einen detaillierten Bericht über die Verwendung der Hilfen vor. Dieser wird dann zur Stellungnahme an das Finanzministerium Bosniens weitergeleitet. Ist diese positiv, wird der Bericht fertiggestellt und der Regierung Bosniens vorgelegt. Darüber hinaus legt IOM einen eigenen detaillierten Jahresfinanzbericht vor, erklärt die IOM-Sprecherin.
Was aber ist mit den lokalen Institutionen und Organisationen? Die DW hat das bosnische Sicherheitsministerium gebeten, zu erklären, welche EU-Mittel zur Bewältigung der Migrationskrise an bosnische Hilfs-Strukturen vergeben wurden und welche Projekte genehmigt wurden. Eine Antwort kam auch zwölf Tage nach der Anfrage (06.01.2021) nicht an.
Fest steht, dass die meiste Finanzhilfe in das direkt an der Grenze zum EU-Mitgliedsstaat Kroatien gelegene Una-Sana-Kanton geflossen ist. Dort halten sich ca. 80 Prozent der Migranten in Bosnien auf. Ein Teil des EU-Geldes wurde und wird laut IOM für deren Unterbringung ausgegeben, etwa im zwischen den Städten Bihać und Velika Kladuša gelegenen Hotel "Sedra" oder Camps wie "Miral" oder "Bira" .
Für die insgesamt sieben Aufnahmezentren in Bosnien, die zusammen zwischen 5000 und 6000 Menschen beherbergen können, wurden laut IOM bisher 7.140.000 Euro verwand. Das sind 14 Prozent des bisher ausgegebenen Geldes. Weitere 39 Millionen Euro oder 77 Prozent wurden für Nahrung, Arznei, Hygieneartikel, Zelte und die Kosten für die Mitarbeiter in den Flüchtlingsheimen verwendet.
"Ein Teil der Mittel wurde auch im Rahmen der Hilfe bei sogenannten Pushbacks aus Kroatien nach Bosnien ausgegeben," schreibt Nicola Bay, die Chefin des Dänischen Flüchtlingsrats in Bosnien der DW. "Das schließt das Sammeln von Zeugenaussagen von Betroffenen und die medizinische Versorgung von Opfern von Gewalt an der Grenze mit ein."
Direkt erhielten bosnische Institutionen und Organisationen nach IOM-Angaben rund 3,5 Millionen Euro. "Finanziert wurde damit etwa die Beschaffung von Fahrzeugen für die Grenzpolizei, die Ausländerämter und die Polizei des Una-Sana-Katons. Hinzu kommen die Gehälter der Beamten, die zur Bewältigung der Migrationskrise eingesetzt wurden", erklärt die IOM schriftlich nach einer Anfrage der DW.
Die Una-Sana-Polizei kaufte demnach mit EU-Hilfsgeldern 50 Paar Winterstiefel an sowie Helme und andere Schutzausrüstung, die normalerweise bei Demonstrationen eingesetzt wird. Die Gesundheitsbehörden des Kantons, die auch die Migranten dort betreuen, schafften einen Krankenwagen an. Auf die Frage der DW, was das gekostet hat und wie die restlichen EU-Hilfsgelder ausgegeben wurden, hat die Kantonsregierung bis heute (18.01.2021) nicht geantwortet.
"Ich weiß, wer nichts bekommen hat," sagt Šuhret Fazlić, der Bürgermeister von Bihać, "und das ist unsere Stadt." Dabei habe die Verwaltung seiner 60.000-Einwohner-Gemeinde zusammen mit dem Kanton bereits im März 2020 rund eine Viertelmillion Euro eigene Mittel für die Grundausstattung des geschlossenen Flüchtlingscamps Lipa ausgegeben. Fazlić warnt regelmäßig in den bosnischen Medien davor, dass die von der Migrationskrise betroffenen Gemeinden im Land bei der Vergabe der EU-Hilfsgelder leer ausgehen könnten.
Als sicher gilt unter Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und Beobachtern, dass sich ziemlich alle Institutionen und Organisationen, die sich in Bosnien und Herzegowina mit Migration und Migranten beschäftigen, mit Projekten um EU-Hilfsgelder beworben haben. Und es ist auffällig, dass auch nach Tagen und Wochen niemand bereit ist, die entsprechenden Fragen der DW zu beantworten.
"Bei aller Kritik an IOM und EU: Ohne sie wäre in Bihać und im Una-Sana-Kanton längst eine Katastrophe passiert", meint dazu Bürgermeister Šuhret Fazlić. "Schließlich hat hier außer ihnen niemand etwas unternommen, um mit der Migrationskrise fertig zu werden."