In Bonn wächst die Kritik am Vorgehen Moskaus in der von Rußland abtrünnigen Kaukasus-Republik Tschetschenien. Der CDU- Militärexperte Peter Kurt Würzbach forderte gestern die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union (EU) auf, endlich "eindeutig Stellung zu beziehen". Ein Land, das innenpolitisches Wohlverhalten mit militärischen Mitteln erzwingen wolle, könne nicht als stabiler Partner betrachtet werden. Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Karl Lamers, verlangte von Bundeskanzler Kohl, in seiner Funktion als EU-Ratspräsident Schritte gegen die russische Militärintervention zu unternehmen. "Die Politik der Russen", so Lamers, "schmeckt mir schon lange nicht mehr."
Der stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Gansel (SPD), warf Bonn derweil "Untätigkeit" vor. Bisher jedoch scheinen alle Appelle am sprichwörtlichen Sitzfleisch Kohls zu scheitern: Der Kanzler habe derzeit keine Absicht, mit Jelzin über den russischen Vormarsch in Tschetschenien zu sprechen, sagte Regierungssprecher Dieter Vogel gestern in Bonn. Am Donnerstag hatte Außenminister Kinkel in einem Telefonat mit seinem russischen Kollegen Andrej Kosyrew die "große Besorgnis" Bonns über die zunehmende Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung zum Ausdruck gebracht und seine Hoffnung auf eine "politische Lösung" erneuert.
Kritik auch aus den Reihen von Menschenrechtsorganisationen: Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) bezeichnete die Bonner Politik in der Kaukasus-Frage als "skandalös und menschenverachtend". Außenminister Kinkel sei "nicht in der Lage, Verständnis für die wehrlosen Opfer des Krieges aufzubringen", meinte Tillmann Zülch. Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Kap Anamur forderte die Bundesregierung auf, endlich "Farbe zu bekennen und Moskau klarzumachen, daß es mit der Freundschaft aus sei, wenn sich nichts ändert".
Warum Bonn im Falle Tschetscheniens so zurückhaltend reagiert, weiß der CSU-Landesgruppenchef Michael Glos. Seiner Meinung nach müssen sich die außenpolitischen Bemühungen Deutschlands zwar darauf konzentrieren, die Forderung nach einer friedlichen Beilegung des Konflikts zu unterstützen - ohne jedoch die Stellung Präsident Jelzins zu gefährden. Am Donnerstag hatte auch US-Präsident Bill Clinton erklärt, er sei über die Lage in Tschetschenien "äußerst besorgt", sehe die Abspaltung der Republik aber trotzdem als "innere Angelegenheit" Rußlands an. Tschetschenische Truppen versuchten gestern erneut, den russischen Blockadering um Grosny zu durchbrechen. Wie der Moskauer Regierungssprecher Walentin Sergejew erklärte, wehrten russische Truppen den Angriff ab. Dementiert wurden Berichte, nach denen russische Streitkräfte eine Erdölraffinerie bei Grosny in Brand geschossen hätten.