Man könnten meinen, dass sich niemand für die Wahlen des kleinen Balkanland Serbiens interessieren würde. Doch das stimmt nicht. Gut besucht war die Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung zur Frage, wie es in Bosnien-Herzegowina nun weitergeht. Am 12. Oktober wählten die Bürgerinnen und Bürger Bosnien und Herzegowinas die Präsidenten ihres Gesamtstaates, die Abgeordneten des Repräsentantenhauses sowie die Präsidenten und Parlamente der Entitäten. Und jetzt?
Nicht die einzige Frage, über die Moderatorin Mirela Grünther Đečević, Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, sprechen wollte. Neben den bekannten Probleme des Landes (Nicht-Funktionieren des Staates, Reformstau, stagnierender EU-Integrationsprozess, katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage usw.) ging es auch darum, welche Bedingungen zivilgesellschaftliche Organisationen brauchen, um unter diesen schwierigen Umständen Erfolge erzielen zu können.
Im Zentrum der Diskussionen in Bosnien stünden jetzt die Koalitionsverhandlungen und die deutsch-britische Initiative - und bei der vor allem um die Frage, ob der Vorstoß der beiden EU-Staaten bedeutet, dass die sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Finci-Sejdić ergebende Frage einer Änderung der bosnischen Verfassung, die die Institutionen des Landes seit Jahren mehr beschäftigt als irgend ein anderes Thema, zugunsten praktischer Fragen in den Hintergrund rückt. Straßburg fordert die Abschaffung der ethnischen Diskriminierung bei der Besetzung der dreiköpfigen Präsidentschaft Bosniens und in einem der beiden Häuser des gesamtstaatlichen Parlaments.
Für Tijana Cvjetićanin, deren Nichtregierungsorganisation (NRO) „Zašto ne?“ (Warum nicht?) sich von Sarajevo aus unter anderem mit Monitoring und Analyse von Wahlversprechen und deren Umsetzung beschäftigt, bleibt abzuwarten, welche Koalitionen sich im gesamtstaatlichen Parlament bilden. Immerhin scheine keine 16-monatige Hängepartie bis zur Regierungsbildung anzustehen wie nach den Wahlen 2010.
Die Koalitionsbildung sei bereits im Gange, DF und SDA aus der Föderation hätten ein gemeinsames Programm mit den Oppositionsparteien unterschrieben, die in der RS gegen Präsident Milorad Dodiks „Bund unabhängiger Sozialdemokraten“ (SNSD) angetreten waren. Zentrale Frage sei nun, ob sich die Abgeordneten der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft HDZ in der nach nationalem Schlüssel von den drei Staatsvölkern besetzten Volkskammer der Koalition aus SDA und DF anschließen - oder in ihrem bisherigen, nicht formalen Bündnis mit dem SNSD bleiben. Beide Varianten hätten das Potenzial, zu einer Regierung zu führen, die wesentlich stabiler wäre als die letzte.
Dražana Lepir, von der NRO „Oštra nula“ (Scharfe Null) aus Banja Luka in der RS hob hervor, dass das Wort „Opposition“ in dieser Entität mit Vorsicht zu genießen sei. „Wir haben eine unreife Opposition, die sich zumindest bisher letztendlich immer mit der Regierung abgesprochen hat.“ Wichtiger als alle Ergebnisse sei, dass ganze 46 Prozent der Wähler nicht zu den Urnen gegangen sind – für Lepir ein Indikator dafür, dass immer mehr Wahlberechtigte die nationale Rhetorik, die die Politik in der RS dominiert, ablehnen.
Für den Wahlsieg Dodiks in Banja Lukas sei vor allem die zentralistische Struktur der RS entscheidend. Dort seien öffentliche Institutionen der größte Arbeitgeber. „Von jedem, der dort arbeitet, leben sechs Familienangehörige. Das sind schnell 120.000 Menschen, die brav ihr Kreuz bei der Regierung machen. In Banja Luka leben aber nur 250.000 Leute.“ Einen Erfolg für Bosnien und Herzegowina sieht Lepir weniger in den Wahlen, als in den Protesten vom vergangenen Februar: „Diesmal ging das von Tuzla aus, aber ich hoffe sehr, dass die nächsten Proteste in der Republika Srpska ausbrechen. Ohne aktive Bürger wird sich nichts an der Politik hier ändern, die auf Hass basiert.“
Für Saša Gavrić, den Direktor des Sarajevo Open Center, das vor allem zu den Themen LGBT, Frauen- und Menschenrechte arbeitet, hängt Bosniens Entwicklung an einem toten Punkt. In den vergangenen acht Jahren seien alle politischen Prozesse blockiert gewesen. „Deshalb sind wir heute zusammen mit Kosovo die Einzigen, die nicht einmal einen EU-Kandidatenstatus haben.“ In der deutsch-britische Initiative sieht Gavrić den Versuch einer „Ausweitung der Prioritäten“, indem nicht mehr einzig auf das Beenden der ethnischen Diskriminierung im politischen System fokussiert würde - also auf die Umsetzung des Sejdić-Fince-Urteils. Zwar sollte niemand glauben, dass die Konzentration auf andere Fragen die sozialen und wirtschaftlichen Probleme über Nacht lösen würde. Trotzdem müssen man alle entsprechenden Prozesse unterstützen, denn klar sei: „Es gibt keine Demokratisierung ohne wirtschaftliche Stabilität - und keine wirtschaftliche Stabilität ohne Demokratisierung.“
Davon ist auch Sanela Klarić überzeugt. Ihre NRO „Green Council“ setzt sich landesweit für eine nachhaltige landwirtschaftliche Entwicklung ein und fordert, dass Landwirtschaft Teil der gesamtstaatlichen Wirtschaftspolitik Bosniens wird. Dafür soll ein gemeinsames Ministerium geschaffen werden, denn das Hauptproblem der Landwirtschaft sei mangelnde Planung. „Nie wurde gefragt, wie man investieren soll, ob wir nun Paprika anbauen oder Bio-Paprika oder etwas ganz anderes. Wir können nicht mit den Auto- oder IT-Industrien der EU-Staaten konkurrieren - aber von Ackerbau bis Agrotourismus haben wir einiges zu bieten. 80 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen in Bosnien werden nicht genutzt. Um das zu ändern, brauchen wir eine gemeinsame Strategie.“
Und wenn dieses Strategie nicht kommt? „Die Februarproteste sind nicht die einzigen Proteste, die in Bosnien und Herzegowina stattfinden“, warnte Tijana Cvjetićanin. Jeden Tag werde in irgendeiner Ortschaft protestiert – „aber die Leute sind nicht vernetzt und deshalb läuft ihr Protest oft unter dem Radar der Institutionen, der internationalen Gemeinschaft, teilweise sogar des zivilen Sektors.“
Sanela Klarić bestätigte: „Es wird ständig protestiert.“ Ein ganzes Jahr lang hätten etwa Landwirte in Zelten vor dem Parlament gecampt – ohne Erfolg. Das zeige, dass das nicht der richtige Weg sei, sich Gehör zu verschaffen. „Die Bürger Bosniens habe Angst vor Aggression. Wir haben genug Traumata. Es gibt Arten, auf sich aufmerksam zu machen, die nicht aggressiv sind, sondern partnerschaftliche Verhältnisse anstreben.“
Erst seitdem die Landwirte begonnen hätten, sich organisiert Medienaufmerksamkeit zu suchen und mit allen Parteien sowie mit Brüssel zu diskutieren, gäbe es Ergebnisse. Deshalb wirkte der Green Council bei der Gründung des „Bund für ländliche Entwicklung“ (Savez za ruralni razvoj) mit, der heute über 25 Landwirtsvereinigungen aus allen Teilen Bosniens repräsentiere. Vorsitzender sei mit Slavko Imić der Chef der Vereinigung der Landwirte der RS. „Das zeigt, dass es auch dort Leute und Organisationen gibt, die sich einsetzen.“
Das belegen für Dražana Lepir auch die Überschwemmungen vom Frühjahr. „Das offensichtliche Versagen des Staats hat die Bürger ganz persönlich getroffen. Das konnte auch die nationale Rhetorik in der RS nicht überdecken. Die Grundstimmung ist zwar weiterhin: Hauptsache, es wird nicht geschossen. Aber die Solidarität von Nachbar zu Nachbar hat belegt, dass auch nach 20 Jahren ständigen Teilens eine Zukunft für dieses Land besteht.“ Das sei immerhin ein Lichtblick.
Ebenfalls ein Lichtblick ist für Saša Gavrić die Entwicklung im Bereich LGBT-Rechte. Dieses Jahr habe er 1.000 Polizisten zu diesem Thema geschult. Das sei ein echter Fortschritt, gerade weil LGBT-Arbeit überhaupt erst in den vergangenen zwei-drei Jahren wieder möglich geworden sei, nachdem 2008 das LGBT-Kunstfestival von einem Mob aus Islamisten und Hooligans angegriffen worden war.
Die bosnische Polizei sei als einzige auf dem Balkan gewohnt, mit Organisationen des zivilen Sektors zusammenzuarbeiten. „Ich habe viel mit Kollegen aus den Nachbarländern zu tun, die Polizei in Serbien etwa ist da völlig verschlossen. Die hat zwar dieses Jahr die Sicherheit bei der Gay Pride Parade in Belgrad aufrecht erhalten, Sensibilisierung für die Menschen, die LGBT sind, ist nicht drin“, sagt Gavrić.
Trotzdem gäbe es auch in Bosnien noch viel zu tun. „Wir fordern, dass Hate Crime ins Strafgesetzbuch aufgenommen wird. Wir arbeiten mit der Polizeiakademie der Föderation Bosnien-Herzegowina zusammen, damit zukünftige Polizisten von Anfang ihrer Ausbildung an dieses Thema herangeführt werden. Am wichtigsten ist der Kampf gegen Gewalt. Wenn wir den gewonnen haben, können wir uns anderer Fragen wie Diskriminierung annehmen.
Aus dem Publikum kam die provokante Frage, wer in Bosnien sich angesichts der Lage eigentlich noch für Begriffe wie „EU-Integrationsprozess“, „deutsch-britische Initiative“ oder „neues Landwirtschaftsministerium“ interessiere. Saša Gavrić antwortete nicht weniger provokant: „Die Frage, ob unsere Diskurse die Menschen interessieren, können wir für alle Balkanstaaten stellen – und auch für Osteuropa oder Deutschland.“ Er selbst habe zehn Jahre in der Bundesrepublik gelebt und ist sicher: „Die Mehrheit der Bürger wird ihnen nicht den Unterschied zwischen Parlament und Regierung erklären können, wird nicht wissen, wer wo was regiert.“ Apolitische Haltungen, Desinteresse an Politik herrschten nicht nur in Bosnien.
Die Aufgabe von Aktiven und NROs sei, an gesellschaftlichen und politischen Prozessen zu arbeiten und dabei auch bürokratische Angebote wie die deutsch-britische Initiative auf praktischer Ebene zu nutzen. „Ich sehe die Initiative als Anti-Diskriminierungs-Maßnahme, die es mir ermöglicht, noch mehr mit Polizisten und Richtern zu arbeiten, ihnen etwas über Menschenrechte beizubringen. Sanela wird darin eine Möglichkeit sehen, über Export von Agrarprodukten zu reden. Lasst uns all diese Möglichkeiten nutzen.“
Tijana Cvjetićanin war sich nicht sicher, ob die deutsch-britische Initiative konsistenter sei, als vergleichbare Initiativen der vergangenen Jahre. „Immerhin steht dahinter die Einsicht, dass das Sejdić-Finci-Urteil trotz aller Bemühungen nicht umgesetzt werden wird.“ Dafür sei die EU mit verantwortlich, die in dieser Frage mit den Parteichefs hinter verschlossenen Türen geredet habe, statt öffentlich mit den Institutionen des Staates.
In Zukunft solle die EU die Akteure des zivilen Sektors in ihre Evaluierungsprozesse einschalten. Cvjetićanin war in den vergangenen Jahren an der Erstellung des alternativen EU-Fortschrittsberichts für Bosnien beteiligt. „Der beruht zu 100 Prozent auf Informationen, die „on the ground“ gesammelt wurden, aber leider hat er überhaupt nicht auf den offiziellen Bericht abgefärbt. Der widerspricht überall da, wo es heiß wird, unseren Ergebnissen diametral.“
Ein weiterer Fehler von EU und internationaler Gemeinschaft sei, dass sie in der Vergangenheit immer einzig mit den Repräsentanten der drei Staatsvölker gesprochen habe - und eine vierte Gruppe ignoriere, die sich aus Leuten mit verschiedenen Identitäten zusammensetze. „Manche haben keine ethnische Identität, andere Minderheiten-Identitäten - aber dass diese Gruppe besteht, dass sollte klar sein.“
Cvjetićanins NRO „Zašto ne?“ habe sich ausgiebig mit der Volkszählung beschäftigt, die sich fast ausschließlich um Identitätsfragen drehte. „Dabei haben wir nicht nur in Sarajevo, sondern in mehr als 30 Orten mit vielen Leuten gesprochen, die sich nicht klar dem einem oder anderen Volk zuordnen können oder wollen.“ Diese Leuten solle man ermutigen, bei ihrer Haltung zu bleiben, auch dann, wenn es bei dieser Frage nicht um Leben oder Tod gehe. „Das reine Überleben ist kein guter Ausgangspunkt für den Aufbau eines Staates.“
Saša Gavrić schloss sich an: Die Szenarien, die sich Bosnien böten, seinen „ein schwarzes Loch wo sich nichts bewegt - aber weiter gefordert wird, dass das Sejdić-Finci-Urteil umgesetzt wird.“ Die Alternative sei, auf sozialen und ökonomischen Fortschritt zu setzen, der sich im Rahmen des bestehendes System nicht ohne ernsthafte Reformen erreichen ließe. „Da die erste Variante nicht in Frage kommt, weil wir nicht in einem schwarzen Loch leben wollen, werden wir die zweite wählen. Es gibt nämlich keinen sozialen und ökonomischen Fortschritt ohne Demokratisierung der Gesellschaft. Wir können nicht zu Wohlstand kommen, wenn wir eine konservative Gesellschaft bleiben, die die Mehrheit der Roma-Community ausschließt.“
Bosnien brauche jeden Bürger. „Es wird hier keinen sozialen und ökonomischen Fortschritt geben, so lange ich euch jetzt sofort 20 LGBT-Freunde aufzählen kann, die hier gut ausgebildet worden sind – das heißt, Bosnien und Herzegowina hat in sie investiert –, gearbeitet haben, dann wegen der hiesigen Homophobie ausgewandert sind und heute in Schweden, Norwegen und anderen Ländern arbeiten.“
Und wie sehen die Bosnier heute die EU? Für Sanela Klarić ist das Problem, dass kein politischer Wille für einen EU-Beitritt besteht. „Unsere Politiker wollen nicht, dass wir in die EU kommen, denn dort würden sie ins Gefängnis kommen bzw. keine Möglichkeit haben, Geld zu scheffeln. Ich wünsche mir, dass Brüssel in den anstehenden Gesprächen eine klare Sprache spricht, die es Politikern unmöglich macht, nicht zu verstehen, dass sie alle mit dem Kandidatenstatus verbundenen Bedingungen erfüllen müssen. Und vor allem, dass die EU endlich mit den Bürgern spricht und nicht nur mit den politischen Führern.“
Tijana Cvjetićanin hob hervor, die Bürger/innen wüssten, dass ein großer Teil der gewaltigen Mittel, die nach dem Krieg nach Bosnien geflossen sind, in der Korruption versickert sei. Das habe das Bild der internationalen Gemeinschaft und der EU negativ geprägt. Zudem sei man zu lasch gegenüber den Parteien und ihren Führern gewesen. „Die haben oft vorher selbst nicht geglaubt, dass sie mit ihren frechen Forderungen durchkommen. Es wäre gut, wenn die deutsch-britische Initiative das im Blick behalten würde. Wir brauchen nicht nur Karotten, sondern auch den Stock.“
Für Dražana Lepir ist das beste Argument für die EU die Verhaftung des kroatischen Ex-Premiers Ivo Sanader wegen Korruption. „Solche Politiker haben wir in Bosnien auch - aber nicht die Gesetze, die es uns ermöglichen, sie vor Gericht zu stellen. Wenn das jemals passiert, wird das für die Bürger sehr viel bedeuten, denn bisher fragen sie sich: Wie kann ich gegen Leute ankämpfen, denen niemand was kann?“
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