Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Hoffnungslosigkeit schmerzt mehr als Kälte

Katastrophale Folgen des Embargos gegen Serbien - Überlebenskampf in Belgrad immer härter - Jugend ohne Perspektive | Von Peter Janjatovic und Rüdiger Rossig

Belgrad. "Grau" - das war schon zu besseren Zeiten der Begriff, der immer dann fiel, wenn von Belgrad im Winter die Rede war. Im Jahr Eins nach dem Krieg gegen die Nato ist ein weiterer hinzugekommen: "Kalt". In den Geschäften, Hotels und Privatwohnungen wird versucht, Energie zu sparen. Denn die ist - wie alles hier - teuer.

Auf dem Kalenic-Markt kosten zehn Eier 30 Dinar oder eine Mark fünfzig. Ein Kilo Kartoffeln gibt es für 20 Dinar oder zwei Mark. Durchschnittlich verdienen die Serben 50 Mark im Monat. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 60 Prozent.

Milanka Stankovic kommt jeden Morgen auf den Kalenic. "Ganz früh gibt es oft noch billige, frische Ware", erklärt die 73-Jährige. Mit sichtbarem Stolz fügt die stämmige Dame mit den beiden großen Einkaufstaschen hinzu: "Aber schenken lassen habe ich mir noch nie etwas!" Rentnern stehen in Serbien 30 Mark pro Monat zu - zu wenig zum Leben. Zudem erwarten die Senioren erst ihre Zahlungen für Oktober.

Milanka Stankovic putzt sich die Nase. "Meine Wohnung kostet kaum Miete, aber dafür funktioniert die Heizung auch nie", sagt sie wie zur Entschuldigung. Und deshalb bin ich nun ständig erkältet." Medikamente kann sich die Rentnerin nicht leisten: "Die sind in Serbien furchtbar teuer", erklärt sie, "und für jeden Arztbesuch muss man wochenlang in den staatlichen Krankenhäusern anstehen oder zu den teuren, privaten Ärzten gehen." Privatärzte müssen die Belgrader in Devisen bezahlen - mit harten Deutschen Mark.

Am meisten stören die gebürtige Belgraderin die vielen Neureichen in der Stadt. "Die schauen auf uns Arme von oben herab, als seien wir selbst schuld an unserer Lage. Dabei können die nur die Nase hoch tragen, weil sie über gute Verbindungen zur Regierung verfügen - zu der Regierung, die uns Rentner jeden Monat aufs Neue bestiehlt."

Aleksander ist erst 25, aber auch er fühlt sich bestohlen. Eine Straßenecke vom Kalenic entfernt hat er auf seinem Auto vier Plastikflaschen aufgestellt, eine Cola für Super, das 25 Dinare oder 1,25 Mark kostet; Fanta steht für Bleifrei zum selben Preis; und Sprite für Diesel kostet 20 Dinare oder eine Mark. Eigentlich ist er Student der Soziologie, aber stattdessen verkauft er geschmuggeltes Benzin aus Rumänien. "Aber immerhin tue ich was für meine Familie und mich." "Irgendwie macht es keinen Sinn, zu studieren. Ich habe keine Lust, Prüfungen vorzubereiten, weil alles so sinnlos ist. Ich meine: Was soll ich mit einem Diplom? Wo soll ich was für wen arbeiten?"

Laut einer Umfrage der unabhängigen Zeitschrift "Vreme" (Zeit) wollten 1996 ganze 70 Prozent der Absolventen der Technischen Universität Belgrad Serbien auf dem schnellsten Weg verlassen. "Wie die meisten meiner Freunde überlege ich mir ständig, wohin ich gehen und wovon ich dort leben könnte", sagt er. "Serbien ist kein Land für mich, nur will uns auch niemand nirgends anders."

Rambo Amadeus heißt eigentlich Antonije Pusic und ist 36 Jahre alt. Seit Ende der Achtziger ist er einer der bekanntesten Rockmusiker Jugoslawiens. "Uns Balkanier kann man eigentlich nicht anders als Sklaven und Knechte bezeichnen, denn wir haben uns auf ein Dasein als Sklaven und Knechte eingelassen", sagt er. Im Gegensatz zu vielen Serben glaubt er nicht, dass in Kroatien das Verhältnis der Bevölkerung zur Regierung besser ist. "Der einzige Unterschied ist, dass die Kroaten sich immerhin lange Zeit gefreut haben, weil sie meinten, ein Land gewonnen zu haben, während wir hier in Serbien noch immer trauern, weil wir eins verloren haben."

Letztes Jahr war Rambo einen Monat in Holland. "Ich habe dort in einem Club gespielt und ein bisschen körperlich gearbeitet. Klar, dieser Aufenthalt draußen hat mir gut getan, ich habe meine Batterien und mein Portemonnaie aufgefüllt. Vor allem habe ich für einen Moment das Gefühl der Platzangst verloren, das man hier in Serbien mit der Zeit kriegt."

Rambo hat nie zu denen gehört, die glaubten, an der immer katastrophaleren Lage Serbiens sei die Regierung schuld. "Schon die alten Griechen wussten, dass die Herrschenden immer nur das Spiegelbild ihres Volkes sind", sagt er.