Am 14. Dezember 1995, es war ein Donnerstag, wurde in Paris der "Dayton-Friedensvertrag" unterzeichnet, der den blutigen Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete. An diesem Tag betrat ein US-Offizier die Redaktion des TV-Senders der UN-Friedenstruppen UNTV im kroatischen Zagreb, wo ich damals arbeitete.
Er habe eine Frage zu seinem nächsten Einsatzort, sagte der Mann mit starkem US-Akzent. Seit 1992 hatten UN-Blauhelme erfolglos versucht, den Krieg im Nachbarland Bosnien und Herzegowina zu stoppen. Den Frieden in Bosnien durchsetzen sollte jetzt ein NATO-Kontingent, zu dem der Amerikaner gehörte: "Ich habe gehört, dass es dort stolze Muslime, Kroaten und Serben gibt. Aber wer sind denn dann die Bosnier?"
Meine UNTV-Kollegen und ich hatten zu diesem Zeitpunkt dreieinhalb Jahre lang über den Krieg in Bosnien berichtet. Die bis 1992 zu Jugoslawien gehörende Republik war überall in Europa täglich Thema der Nachrichten. Entsprechend herzlich haben wir über die naive Frage des Amerikaners gelacht.
Später wurde mir klar, dass der US-Offizier exakt das Dilemma erkannt hatte, in dem Bosnien bis heute steckt: Zu viele der 3,5-Millionen Bürgerinnen und Bürger sind nicht nur nicht stolz auf ihren Staat. Sie wollen keine Bosnier sein. Und das hat seine Gründe.
Das Wort Bosnien erinnert bis heute an die Zeit von April 1992 bis Dezember 1995, als sich in dem kleinen Balkanstaat bewaffnete Kräfte der drei größten religiös-ethnischen Bevölkerungsgruppen - muslimische Bosniaken, katholische Kroaten und orthodoxe Serben - mit Unterstützung der Nachbarstaaten Kroatien und Serbien bekämpften. 100.000 Menschen wurden getötet, Millionen vertrieben.
Mit dem Dayton-Friedensvertrag und der dazu gehörenden Verfassung wurde Bosnien zwar als Staat erhalten - aber dieser ist eine komplizierte Konstruktion aus ethnisch definierten "Entitäten", die von nationalistischen Parteien beherrscht werden, die vor 25 Jahren Krieg gegeneinander führten.
Da die Dayton-Verfassung zudem bei vielen Entscheidungen Einstimmigkeit einfordert, kann Politik in Bosnien nur dann zur Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger funktionieren, wenn Politiker ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft einbringen. Genau das ist aber nicht der Fall - denn die herrschenden Nationalisten haben sich bestens im bestehenden System eingerichtet.
Dabei kann man die Zustände in Bosnien nicht anders nennen als erbärmlich: Das Land ist weitgehend de-industrialisiert, die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent, knapp zwei Drittel der unter 25-Jährigen haben keinen Job. Der Lebensstandard stagniert bei knapp einem Drittel des EU-Durchschnitts. Den Alltag prägen Armut, Korruption und Umweltverschmutzung.
Weil sich an diesen Zuständen trotz aller Wahlen seit Kriegsende nichts geändert hat, wandern jedes Jahr Zehntausende Bosnier aus, allen voran die Jungen und gut Ausgebildeten. Das ist schlecht für das Land - aber gut für die Nationalisten. Die befürchten ganz zu Recht, dass sich die Wut der um ihre Zukunft betrogenen Jugend irgendwann entladen könnte.
Die Auswanderung dagegen stabilisiert die Macht der Nationalisten. Sie kontrollieren weiter die wenigen Arbeitsplätze im Land, die sie an treue Anhänger verteilen. Zudem verstärkt die Emigration der Jungen die seit Jahren fortschreitende Überalterung der bosnischen Bevölkerung. Irgendwann kann der letzte Auswanderer das Licht ausmachen.
Die Geschichte aller Demokratien der Welt zeigt: freie Gesellschaften funktionieren nur, wo Wohlstand herrscht. Angesichts dessen ist eigentlich seit Jahren klar, was in Bosnien nötig ist: Die Politik müsste massive Investitionen und eine Re-Industrialisierung den Lebensstandard der Menschen massiv heben.
Es ist klar, warum die Nationalisten das nicht tun: Es wäre das Ende ihrer Macht. Die nicht-nationalistischen Parteien dagegen sind nicht in der Lage, Wohlstand zu schaffen, weil sie nie lange genug an der Macht sind. In Bosnien kann daher keine Veränderung beginnen. Sie muss - wie der Dayton-Frieden von 1995 - von außen kommen.
Führend bei den Friedensverhandlungen 1995 waren die USA. Nachdem europäische Staaten jahrelang erfolglos versucht hatten, den Krieg in Bosnien zu beenden, brachte Präsident Bill Clinton die Konfliktparteien auf der Wright-Patterson US-Air Force Base bei Dayton/Ohio mit einer Mischung aus Drohungen und Hilfsangeboten dazu, sich zu einigen.
Seitdem jedoch ist die Rolle Europas in Bosnien immer wichtiger geworden. Heute steht dort statt einer NATO- eine EU-Friedenstruppe. Das macht Sinn, schließlich liegt die Region auf dem alten Kontinent. Mit Joe Biden erhält die EU nun in der Balkanpolitik einen verlässlichen US-Verbündeten - ein guter Zeitpunkt für Europa, seine Verantwortung in Bosnien aktiver wahrzunehmen.
Doch in der EU ist es schwer, die dazu nötigen Entscheidungen zu treffen. Der derzeitige Streit um den Haushalt zeigt, dass es auch dort kompromisslose Akteure gibt. Das beeinträchtigt nicht nur die europäische Balkanpolitik. Es belegt, dass es dringend Zeit ist, den Zwang zur Einstimmigkeit abzuschaffen und zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Die EU braucht mehr Demokratie - genauso wie Bosnien.
Das multinationale Europa und das multikonfessionelle Bosnien haben nicht nur ähnliche Schwierigkeiten, sondern auch die gleichen Gegner: autokratische Staaten wie Russland oder die Türkei, das totalitäre China, das fundamentalistische Saudi Arabien sowie (Rechts-) Populisten und religiöse Fundamentalisten. Sie alle lehnen eine einige, demokratische EU so sehr ab wie ein geeintes, demokratisches Bosnien.
Nach vielen Jahren unter europäischer Aufsicht sollte Bosnien endlich offiziell EU-Protektorat werden - für einen begrenzten Zeitraum und mit dem klar definierten Ziel, das kleine Balkanland reif für den EU-Beitritt zu machen. Und den Bürgern Bosniens endlich Gründe dafür zu geben, gerne Bosnier zu sein.
Ja, eine derartige Entwicklung erscheint angesichts der Zustände dort und der aktuellen Probleme der EU unwahrscheinlich. Unmöglich ist sie aber nicht. Und sie wäre für Bosnien und Europa allemal besser als eine Fortsetzung der Agonie.
1932 schrieb der deutsche Autor Kurt Tucholsky: "Ein jüdischer Mann sagte einmal: 'Ich bin stolz darauf, Jude zu sein. Wenn ich nicht stolz bin, bin ich auch Jude - da bin ich schon lieber gleich stolz!' Diese Haltung würde vielen Bosniern gut stehen. Und anderen Europäern auch.