Über Reichtum und Armut wird in der Bundesrepublik oft und viel gestritten. Dabei geht es in den allermeisten Fällen um Geld und dessen Besteuerung. Also um Löhne und Gehälter, Gespartes oder Erbe, sei es in Form von Barem, Einlagen, Wertpapieren, Maschinen oder Fabriken. Eigentum an Grund und Boden dagegen spielt im Diskurs höchstens dann eine Rolle, wenn mal wieder irgendwelche Grundstücksbesitzer irgendeinen Zugang zu irgendeinem See versperren, der doch eigentlich der Öffentlichkeit gehört.
Das ist merkwürdig. Denn die die Frage, wer das Land besitzt, auf dem Menschen leben, Ackerbau betrieben oder Tiere halten, war zu allen Zeiten und für jede Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Deshalb stand die Forderung nach einer gerechten Verteilung von Grund und Boden vor der Industrialisierung, als die Landwirtschaft die einzige Quelle des Wohlstandes war, auch bei allen Aufständen ganz oben auf der Agenda. Es war klar war: Wer das Land besitzt, hat die Macht zu entscheiden, was damit geschieht.
Diese Macht hatten in der Geschichte nie diejenigen, die Land bearbeiteten. Und wenn schon mal die Bauern Besitzer von Grund und Boden waren, dann blieben sie es nicht lange. In England, dem Mutterland des Handels, des Kolonialismus, der Industrialisierung und damit der Modernisierung, wurden vom zehnten Jahrhundert an Massen von Bauern von ihren Höfen vertrieben – und damit von ihrer Lebensgrundlage. Thomas Morus beschreibt den brutalen Prozess der „Einhegung“ (engl. Enclosure) in seinem vor 500 Jahren erscheinen Werk „Utopia“ folgendermaßen:
„Eure Schafe, die so sanft zu sein und so wenig zu fressen pflegten, haben angefangen so gefräßig und zügellos zu werden, dass sie die Menschen selbst auffressen und die Äcker, Häuser, Familienheime verwüsten und entvölkern. Denn in jenen Gegenden des Königreichs, wo feinere, daher teurere Wolle gezüchtet wird, sitzen die Adeligen und Prälaten (...), lassen sie dem Ackerbau keinen Boden übrig, legen überall Weideplätze an, reißen die Häuser nieder, zerstören die Städte und lassen nur die Kirchen stehen, um die Schafe darin einzustallen, und (…) verwandeln (…) alle Wohnungen und alles Angebaute in Einöden.“
Schafe fressen Menschen: Weil sie ihr Geld mit Schafwolle verdienten, vertrieben die Mächtigen – Adelige, höhere Kleriker und reiche Stadtbewohner – die Bauern aus ihren Dörfern, von ihren Äckern und Weiden und rissen immer mehr Fläche für immer mehr Schafe an sich. Möglich war das dank des Systems der „land titles“: In Großbritannien ist derjenige Eigentümer eines Grundstücks, der die älteste Besitzurkunde vorlegen kann. Im Falle der Einhegungen machten sich die reichen Schafzüchter Ahnungslosigkeit und Analphabetismus der Landbevölkerung zunutze: Sie legten gefälschte Besitzurkunden vor – etwa aus der Zeit des römischen Reichs –, auf deren Grundlage und mit Hilfe der ebenfalls adeligen bzw. später bürgerlichen Richter sie den Bauern deren Land scheinbar ganz legal wegnahmen.
Die flohen vor dem Hunger in die Städte und bildeten dort die Basis der Unterschichten, deren Angehörige mangels Alternativen zunächst Mannschaften für die Schiffe und Soldaten für die Armeen des Empires stellten – und später die Arbeiter in den Fabriken. Und da sich die „land titles“ mit dem Kolonialismus zuerst in die späteren USA und dann im ganzen britischen Weltreich ausbreiteten, liefen ähnliche Prozess in weiten Teilen der Erde ab. Weil die Bauern für die Schafzucht ein Hindernis waren, war ihre „Befreiung“ in England schon Ende des 15. Jahrhunderts abgeschlossen. In den Gebieten Europas dagegen, wo viel später der erste deutsche Staat entstehen sollte, begann die Abschaffung der persönlichen Verpflichtung der Landbevölkerung gegenüber adeligen und kirchlichen Grundherren viel später und wurde erst im 19. Jahrhundert beendet.
Auch auf dem Kontinent bestand Reichtum bis weit in die Neuzeit hinein keineswegs aus Geld, sondern aus Grundbesitz. Aber dort und damit auch in den deutschen Ländern waren die leibeigenen Bauern nicht Eigentümer des Landes, das sie bestellten; sie hatten lediglich ein Nutzungsrecht, das ihnen ihre Grundherren auf Widerruf gewährten und das nicht vererbbar war. Damit sie deren Äcker bearbeiten durften, mussten die Bauern den Grundherren Abgaben errichten und Frondienste für sie leisten.
Dabei gab es große regionale Unterschiede: In manchen Teilen des späteren Deutschland dominierte Großgrundbesitz, andere waren Flickenteppiche aus kleinen und kleinsten Latifundien. Besonders in landwirtschaftliche wenig attraktiven Gegenden bestanden zudem noch lange „Allmenden“: Land, das wie vor Entstehen des Feudalismus allen gehörten und kollektiv genutzt wurde. In der Lüneburger Heide etwa waren noch Anfang des 19. Jahrhunderts nur Hofgrundstücke in Privatbesitz; Wald und Heide gehörten allen und wurden gemeinschaftlich genutzt, etwa zum Weiden von Schweinen.
Erfasst wurde Landbesitz im späteren Deutschland schon im zehnten Jahrhundert – aber nur regional und nach höchst unterschiedlichen Maßen und Normen. Die ersten Grundbücher wurden seit 1868 geführt, aber nie für das ganze 1871 gegründete Reich. Heute gehört zwar praktisch jeder Quadratmeter Deutschland Personen oder dem Staat – aber zu der zentralen Frage, wem konkret welcher Grund und Boden gehört, gibt es noch immer keine aussagekräftigen Zahlen.
Während jeder Hartz-IV-Empfänger allen Besitz offen legen muss, sind die Daten über die großen Besitztümer bestenfalls nebulös. So hat das Statistische Bundesamt zwar penibel erfasst, wie viele Wohnungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs gebaut wurden – aber wem sie heute gehören oder wie viel Geld sie jetzt wert sind, ist unbekannt. Selbst den Wert des Besitzes der öffentlichen Hand kennt man nicht: Das Bundesfinanzministerium hat erst 2016 angefangen, alles was dem Staat gehört zusammenzutragen und zu bewerten. Auch die Kirchenoberen – deren Vorgänger in der Feudalgesellschaft wie die Adeligen Gutsherren waren – wissen bis heute nicht die exakte Zahl der ihnen gehörenden Länder und Gebäude; und als nicht gewinnorientierten Organisationen müssen Religionsgemeinschaften das auch gar nicht.
Angenommen wird, dass heute zwei Drittel der Fläche der alten Bundesländer in Privatbesitz sind. Dabei halten Land- und Forstwirte circa 34 Prozent, Privatpersonen 22, Gemeinschaftseigentümer 5,5, Kleinunternehmer 3 Prozent. Ein weiteres knappes Drittel gehört demnach Bund, Ländern und Gemeinden, 4 Prozent den Kirchen. Den Rest teilen sich Wohnungsgesellschaften, Banken und andere Unternehmen.
Diese Besitzverhältnisse sind nicht nur hochgradig ungerecht, sondern auch ziemlich stabil: Kaum mehr als ein zehntel Prozent wechselt pro Jahr den Eigentümer. Nicht selten sind Wälder, Äcker und Wiesen seit Generationen in der Hand einer Familie. Und die ist – 90 Jahre nach Abschaffung der Monarchie – noch immer sehr oft adelig. So gehören heute nur 34 Prozent der deutsche Wälder dem Staat, aber 50 Prozent besitzen rund zwei Millionen Privatleute, von denen die fünf größten Aristokraten sind.
Eine Ausnahme von dieser Regel ist die ehemalige DDR. Dort enteigneten die unter der sowjetischen Besatzungsmacht herrschenden Kommunisten nach 1945 die adeligen „Junker“, die bis dahin eine Hauptrolle in der Landwirtschaft gespielt hatten. Doch die neuen Besitzer von 30 Prozent des Bodens, die bei dieser Gelegenheit an Landarbeiter, Klein- und „Neubauern“ gingen – darunter viele bisherige Landarbeiter und Vertriebene aus den Gebieten des ehemaligen deutschen Reichs, die seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr zu Deutschland gehören –, konnten sich nicht lange an ihrem neuen Besitz erfreuen: 1952 begannen die Kommunisten, das „Junkerland“, das sie kurz zuvor in „Bauernhand“ überführt hatten, nach sowjetischem Vorbild zu Kollektivbetrieben zusammenzufassen; wer sich weigerte, sich den neuen „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“ (LPG) anzuschließen, wurde dazu gezwungen oder musste die DDR verlassen.
Wie stark die Zwangskollektivierung die Ex-DDR bis heute prägt, ist vom Flugzeug aus klar erkennbar: Während die alte Bundesrepublik von oben betrachtet wirkt wie ein Flickenteppich aus kleinen und mittleren Äckern und Feldern, dominieren in den fünf neuen Bundesländern riesige Agrarflächen das Bild. Deren heutige Besitzer sind oft „rote Junker“: ehemalige Direktoren der ehemaliger LPGen.
Auch das Eigentum an bebautem Grund ist in der Ex-DDR anders verteilt als in der ehemaligen Bundesrepublik: Im Osten Deutschlands liegt die „Wohneigentumsquote“ bei knapp 35, im Osten bei mehr als 44 Prozent. Das heißt aber auch: In Ost- wie Westdeutschland besitzen mehr als die Hälfte der Einwohner nicht den Wohnraum, in dem sie leben. Zudem ist das Privateigentum an Grundstücken, Häusern und Wohnungen regional extrem unterschiedlich. So sind knapp 60 Prozent der Saarländer Eigentümer von Wohnraum, in Berlin gerade mal 12,7.
Dass so wenige Deutsche Wohnungen besitzen, hat historische Gründe: Im Zweiten Weltkrieg wurde knapp die Hälfte des Wohnimmobilienbestands stark beschädigt oder zerstört. Die so entstandene Lücke – schätzungsweise sechs Millionen Immobilien – konnte nach 1945 nur durch jahrelange massive staatliche Förderung des sozialen Wohnungsbaus geschlossen werden. Heute leben zwar nur noch sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung in Sozialwohnungen – aber der ehemals öffentliche Wohnraum wurde nicht etwa an die dort lebenden Menschen verkauft, sondern an Firmen, die wiederum reichen Personen oder Familien gehören.
Zudem investieren immer mehr ausländische Investoren in Immobilien in Deutschland; 2015 kamen 68 Prozent der Käufer aus anderen Ländern. Dass auch hierbei unbekannt ist, wer tatsächlich wie viel kauft, besitzt und wiederverkauft, wird nach dem oben geschilderten Unwissen über Landbesitz niemanden verwundern. Ist Eigentum etwas Intimes? Haben Deutschlands Besitzende Angst? Und wenn ja: Wovor? Vor der Rache der Enteigneten? Vor Neidern? Oder vor der Steuer? Die These des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon, nach der Eigentum Diebstahl ist, ist sicher polemisch; aber historisch ist kaum zu widerlegen, dass der Grund und Boden, der heute privat oder mit privaten Gebäuden bebaut ist, in der Geschichte entweder anderen als den heutigen Besitzern gehörte; oder niemandem; oder allen.
Wir sollten aufhören, uns darüber aufzuregen, ob irgendwelche Wege um irgendwelche Seen von irgendwelchen Besitzern umliegender Grundstücke eingehegt und für die Öffentlichkeit unzugänglich werden. Stattdessen sollten wir endlich jene Politiker beim Wort nehmen, die seit Jahrzehnten versprechen, mehr bezahlbare Wohnungen zu schaffen – und andererseits neue, juristisch durchsetzbare Wege finden, mehr Grund und Boden in Allgemeinbesitz zu überführen. Schließlich geht es um Macht.