Serbien wird also nicht bombardiert. Die Albaner im Kosovo müssen weiterhin unter einem brutalen Polizeiregime leben. Der Westen hat - acht Jahre nach Beginn der Kämpfe in Ex-Jugoslawien - noch immer nicht begriffen, daß Serbiens Führung auf seine Drohungen mit militärischen Aktionen nur dann reagiert, wenn diese unmißverständlich vorgetragen und im Zweifelsfall auch in die Praxis umgesetzt werden. Das ist die erste Lehre aus den gescheiterten Kosovo-Verhandlungen im französischen Rambouillet.
Das hätte - nach den Erfahrungen aus den Kriegen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina - jeder Vermittler wissen müssen. Dort hatten die serbischen Warlords jede Vereinbarung gebrochen, bis der Bosnien-Unterhändler Richard Holbrooke ihrem Führer, dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic, deutlich machte, daß die Welt auf weitere Aggression mit militärischer Gewalt reagieren würde. Nur weil er das begriff, unterschrieb Milosevic das Friedensabkommen von Dayton. Damit lag schon in der Planungsphase zu den Kosovo-Verhandlungen auf der Hand, daß Absprachen nur dann etwas taugen, wenn der jugoslawische Präsident sie selbst unterzeichnet.
Die zweite Lehre aus Rambouillet lautet: Die internationalen Vermittler haben den Charakter des serbischen Regimes nach wie vor (und trotz Dayton) nicht begriffen. Zur Erinnerung: Vor Milosevic waren Jugoslawien und Serbien für südosteuropäische Verhältnisse hoch entwickelt. Es gab ein funktionierendes medizinisches Versorgungssystem, der Analphabetismus war 1945 von 70 Prozent auf westeuropäisches Niveau gedrückt worden. Selbst die sozialistische Bürokratie funktionierte leidlich.
Milosevics Politik hat das Land innerhalb der letzten zwölf Jahre grundlegend verändert. Die Krankenhäuser sind geschlossen, die Schulen verbreiten Propaganda statt Wissen, die Transportwege sind in einem erbärmlichen Zustand, und der Lebensstandard der Bevölkerung ist auf das Niveau der "Dritten Welt" gesunken. Nur Milosevic bleibt da, wo er sein will - an der Macht. Dabei hat der kleine Mann in Belgrad noch jede im politischen Sinne wichtige Auseinandersetzung verloren. Statt eines reichen, international geachteten Landes regiert er einen verarmten Kleinstaat an der europäischen Peripherie. Alle Eroberungen, die die Serben in Kroatien seit 1991 gemacht hatten, hat er preisgegeben. Und die Serben in Bosnien sehen ihn längst nicht mehr als ihren Schutzpatron an. Und zur Zeit verspielt er - Rambouillet hin oder her - mittelfristig den Kosovo, die "Wiege des Serbentums".
Innerhalb Serbiens ist Milosevics Macht deshalb so unbeschränkt, weil er sich die großen Medien des Landes frühzeitig unterworfen hatte. Darüber hinaus ist seine Polizei ebenso allgegenwärtig wie das Netzwerk seiner Partei. In einer solchen Atmosphäre kann sich eine Opposition weder bilden, geschweige denn als politische Macht formieren. Hinzu kommt Milosevics bewundernswerte Beweglichkeit auf dem politischen Parkett. Der Belgrader Journalist Aleksander Tijanic hat unrecht, wenn er meint, der jugoslawische Präsident wolle ein serbischer Bismarck sein. Milosevic konnte all die nationalen Niederlagen so unbeschadet überstehen, weil er eben kein Großserbe ist. Bereits 1985, zwei Jahre vor seinem Amtsantritt als Chef der Belgrader Kommunisten, erzählte Milosevic einem deutschen Diplomaten, er sei der Meinung, der Nationalismus werde den Kommunismus in Jugoslawien als Herrschaftsideologie verdrängen. So spricht keiner, der nationalistische, politische Ziele verfolgt - eher ein Marketingspezialist, der weiß, daß sein altes Produkt nicht mehr ankommt. Gerade weil Milosevic also kein Politiker mit nationalen oder anderen ideologischen Zielen ist, konnte ihm die internationale Gemeinschaft in Kroatien und Bosnien auch nicht mit politischen Mitteln beikommen. Daß die Kontaktgruppe diese Erkenntnisse nicht in ihre Kosovo-Verhandlungsstrategie eingebaut hat, ist der Grund für ihr Scheitern.
Gegen aggressive Herrscher wie Milosevic gibt es kein anderes Mittel als das der Gewalt. Allein die Tatsache, daß im Kosovo serbische Panzer auf albanische Dörfer schossen, während in Rambouillet verhandelt wurde, beweist dies. Eine klarere Verhandlungsführung und ernst zu nehmende militärische Drohungen hätten dies verhindern können.
Natürlich bedeutet das nicht, daß der Westen künftig in jeden regionalen Konflikt militärisch eingreifen könnte oder sollte. Die dritte Lehre, nicht nur aus Rambouillet, sondern aus der Geschichte des Zerfalls Jugoslawiens, lautet also: Die internationale Politik muß sich dringend über Konzepte Gedanken machen, die das Entstehen derartiger Konflikte verhindern. Zum Experimentieren eignen sich dabei Gebiete, in denen derzeit nicht oder nicht mehr gekämpft wird. Bosnien zum Beispiel ist heute, mehr als drei Jahre nach Kriegsende, von einem wirklichen Frieden weit entfernt. Von der in Dayton vereinbarten Rückkehr der Flüchtlinge oder vom wirtschaftlichen Wiederaufbau ist wenig zu spüren. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 60 Prozent, die Preise sind annähernd so hoch wie in Deutschland. Und weil niemand der geschundenen Bevölkerung eine realistische Alternative anbietet, beherrschen die nationalen Parteien, die den Krieg geführt haben, weiterhin fast das gesamte Land.
Das sieht im Kosovo und in Serbien ganz ähnlich aus. Selbst eine Nato-Schutztruppe mit dem klaren Befehl, auf Verletzungen des Friedens sofort mit Waffengewalt zu reagieren, könnte keine zivilen Zustände erzwingen. Daß Milosevic ein Land wie Jugoslawien überhaupt ins Verderben führen konnte, ist der katastrophalen wirtschaftlichen Lage dort zu Anfang der Neunziger, also vor dem Krieg, geschuldet. In einer Situation, in der die Inflation 2.000 Prozent beträgt, die Arbeitslosigkeit weite Teile der Bevölkerung erfaßt hat und das Wirtschaftsleben fast nur noch auf dem Schwarzmarkt stattfindet, können Demagogen vom Schlag des jugoslawischen Präsidenten zur Macht aufsteigen.
Umgekehrt bedeutet dies: Die Bedingungen müssen verändert werden, unter denen der Aufstieg von Herrschern wie Milosevic möglich ist. An dieser Erkenntnis müßte in Zukunft jede Politik, die Konflikte wie die in Ex-Jugoslawien verhindern will, ansetzen. Wer aber soll in einer Region investieren, in der als Profit einzig und allein der Erhalt des Friedens winkt? Der Markt wird es nicht richten.