Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Das Urteil lautet: Schuldig

Das "Tribunal über den Nato-Krieg gegen Jugoslawien" vergab bewusst die Chance zur kritischen Auseinandersetzung | Von Rüdiger Rossig

Die Angeklagten fehlen. US-Präsident Bill Clinton und Bundeskanzler Gerhard Schröder ziehen es vor, über "Modernes Regieren im 21. Jahrhundert" zu debattieren, und auch US-Außenministerin Madeleine Albright und ihr deutscher Kollege Joschka Fischer sind nicht da, schon gar nicht die "vorgeladenen" Bundestagsabgeordneten, die die Nato-Luftangriffe gebilligt haben. Das "Internationale inoffizielle Tribunal über den Nato-Krieg gegen Jugoslawien" tagt, vor 400 engagierten Zuhörern ín der Heilig-Kreuzkirche in Berlin Kreuzberg, in Abwesenheit der
Angeklagten, aber mit vielen Zeugen der Anklage.

Die Form eines Tribunals, eines Gerichtsverfahrens, hat sich als Instrument zur Schaffung von Gegenöffentlichkeit spätestens seit dem Russell-Tribunal der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung bewährt. Es wird seither routiniert gehandhabt - auch als schlichtes Propagandaforum.

In der Heilig-Kreuz-Kirche hängt hinter dem Podium das Symbol des Verfahrens: Ein schwarzer Keil mit der roten Aufschrift "Tribunal" zerschlägt das Emblem der Nato. Im Park gegenüber spielen ein paar Flüchtlinge Boccia - sie seien Überlebende der serbischen Lager in Bosnien, sagen sie dem fragenden Journalisten. Vom Tribunal wissen sie nichts. Es kümmert sie auch nicht.

Wer ist in der Kirche? Die größte Gruppe auf Podium und im Publikum der Veranstaltung sind grauhaarige Herren, von denen viele mit sächsischem oder Thüringer Akzent sprechen. Auf Platz zwei folgen Post-Hippies zwischen zwanzig und vierzig. Hinzu kommen auffällig adrette, meist slawisch sprechende Frauen und Männer verschiedenen Alters - Diplomaten der jugoslawischen Vertretung in Berlin, serbische Journalisten und Vertreter der Anti-Nato-Tribunale des "Bundes der slawischen Staaten".

Die älteren dieser Russen, Ukrainer und Weißrussen, an deren Revers Embleme der ehemals kommunistischen Parteien stecken, sprechen das Publikum schlicht als "tovarishi" - Genossen - an. Auch ansonsten hat sich ihr Vokabular seit 1989 wenig weiterentwickelt: Im Zentrum der Beiträge stehen der "Kampf gegen den US-Imperialismus" und "für den Weltfrieden".

Norman Paech, der Vorsitzende des Tribunals, umreißt das Vorhaben knapp: "Hier geht es ausschließlich um die rechtliche Verantwortung für einen Krieg, der zum ersten Mal nach 1945 mit maßgeblicher und führender deutscher Beteiligung gegen ein Nachbarland geführt worden ist." (siehe Interview)

Das Wort hat der Ankläger: Ulrich Dosts in der Anklageschrift vertretene Auffassung zur Nato im Allgemeinen und zu ihrer Rolle im Kosovo im Besonderen ist genauso klar wie die der "tovarishi" aus Moskau, Minsk, Kiew oder Belgrad (siehe: www.nato-tribunal.de ). Vor zwölf Jahren war Dost Staatsanwalt in der Deutschen Demokratischen Republik. Dass er nun wieder in diese Rolle schlüpft, schulde er dem Umstand, so sagt er, dass in der Bundesrepublik "die normalen Gerichte versagen".

Der Anklage folgt die Beweisaufnahme: Sachverständige referieren über ein Themenspektrum von "bewusster Destabilisierung Jugoslawiens durch die BRD" bis zu Fragen der "Neuen Weltordnung" und geostrategischen Überlegungen der US-Regierung.

Zeugen aus Jugoslawien sind da, denen die deutsche Botschaft in Belgrad erst in letzter Minute Visa ausgestellt hat. Es geht um "Kollateralschäden" - im Nato-Sprachgebrauch der Begriff für versehentliche Angriffe auf zivile Objekte in Jugoslawien.

Marijana Brudar, eine Postangestellte aus der Kosovo-Hauptstadt Pristina, weint vom ersten bis zum letzten Wort ihrer Aussage. Sie berichtet, wie ihre Kinder beim Kaugummi kaufen von einer Nato-Bombe getroffen wurden. Ihr Leben im Kosovo sei vorher ruhig und normal gewesen - bis auf die ständigen Überfälle der "siptarski teroristi". "Siptar", eine Verballhornung des albanischen Wortes für Albaner, "Shqiptar", ließe sich auf deutsch etwa mit "Kanacke" für Ausländer oder auch "Itzig" für Jude vergleichen. Die Simultan-Übersetzer übergehen den Fauxpas. Das Publikum applaudiert der Zeugin lange. Sie setzt sich wieder zu den Herren von der jugoslawischen Vertretung in Berlin.

Der nächste Zeuge heißt Milan Simonovic und ist Arbeiter. Simonovic hat den Nato-Angriff auf einen Personenzug überlebt. Ruhig, sehr sachlich berichtet er von der Reise, vom Angriff, von den Glasscherben und von einem Mann, dem beide Beine abgerissen wurden. Wieder Applaus, jedoch verhalten.

Der Journalist Milos Markovic war an dem Abend, als die Nato den serbischen Staatssender Radio Televizija Srbije (RTS) angriff, dort Chef vom Dienst. RTS war und ist ein Hauptherrschaftsinstrument Milosevic. Der Sender verbreitet mit Vorliebe Horrormeldungen über Gräueltaten der Feinde Serbiens. Mit den Worten und der Intonation des erfahrenen Journalisten berichtet Markovic, wie er und seine Kollegen an jenem Abend das RTS-Nachrichtenprogramm vorbereiteten - "im Gegensatz zu den Propagandisten der CNN wie immer objektiv". Das Publikum klatscht, bis die Hände schmerzen.

Auch eine Verteidigung gibt es, doch. Markovic und die anderen Zeugen sind bereits von den schwarzen Mercedessen der jugoslawischen Botschaft abgeholt worden, als Valentina Strauss aus Nowosibirsk zu Wort kommt - in bester Tradition unwilliger, bestellter Pflichtverteidiger. "Ich kann hier nicht die Verbrechen verteidigen", so die Anwältin, "sondern nur die Angeklagten." Am Aggressionskrieg der Nato könne kein Zweifel bestehen. Nur: Daran seien auch die UNO, die OSZE und das Internationale Rote Kreuz mit schuldig, die nicht rechtzeitig auf eine friedliche Konfliktbeilegung gedrängt hätten. Punkt.

Die Jury tagt. Das Urteil ist, angesichts des Sinns des Tribunals, Formsache: schuldig. Mitglieder des serbischen Sport- und Kulturvereins bringen die große, weiße, selbst modellierte Friedenstaube aus der Kirche heraus, die sie während der Verhandlung auf dem Podium plaziert hatten.

Welchen Zweck hat das Tribunal erfüllt? Die Anwesenden sahen sich bestätigt. Die jugoslawische Regierung wird die Solidarität im Lager des Feindes zu schätzen wissen. Die Chance zu kritischer Auseinandersetzung wurde allerdings dank der selbst gewählten Einseitigkeit vertan.