Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Eine Frage der Ehre

Slobodan Milosevic kann zufrieden mit seinen Wahlen sein - völlig unabhängig vom Ergebnis | Von Rüdiger Rossig

Vor Ausschreibung der Wahlen standen sich Regime und Opposition keineswegs in Kampfposition gegenüber. Die Antipoden waren nicht Demokraten und Oligarchen, sondern verschiedene Fraktionen innerhalb der Oligarchie. Auf der einen Seite standen diejenigen, die angesichts der internationalen Totalisolation nach dem Kosovo-Krieg und der miserablen Lage einen Kurswechsel forderten. Auf der anderen stand Slobodan Milosevic.

Diese Fraktionsbildung innerhalb des Belgrader Regimes war von den westlichen Regierungen nicht nur bemerkt, sondern aktiv betrieben worden. Noch während des Kosovo-Krieges hatten die USA und ihre Verbündeten ihre bisherige Forderung nach einem totalen Austausch der Elite Jugoslawiens aufgegeben. Die Anklage gegen Milosevic vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal signalisierte dem jugoslawischen Establishment: Setzt euren Chef ab, dann werden wir uns schon einigen.

Die westliche Botschaft wurde verstanden: In der jugoslawischen Armee wurde eine interne Untersuchung des Verhaltens der Soldaten im Kosovo durchgeführt - offenbar organisiert von Kreisen, die Beweismaterial gegen das der Kriegsverbrechen angeklagte Staatsoberhaupt sammeln wollten. Im Gegenzug gab es Anschläge gegen Oppositionspolitiker. Anti-Regime-Aktivisten wurden verhaftet und kritische Journalisten vor Gericht gestellt. Ein Polizei- und ein Verteidigungsminister, ein Exmilizchef und weitere Funktionäre von Milosevic Gnaden wurden ermordet, andere verschwanden. Milosevic Macht wankte.

Mit der Ausschreibung der Wahlen gelang dem Präsidenten ein meisterhafter Befreiungsschlag. Er packte seine Anhängerschaft bei ihrer Ehre. Ehre, das ist die Summe aller Tätigkeiten, die der Stabilisierung der eigenen Gruppe dienen. Je höher der Vorsprung des Oppositionskandidaten in den Umfragen wurde, desto enger scharte sich das gespaltene Belgrader Establishment wieder um seinen Führer. Der Apparat von Milosevic Sozialistischer Partei lief zu ungeahnter Hochform auf. Die Armee versicherte ihrem Oberkommandanten ihre Ergebenheit. Die Morde und Entführungen innerhalb der herrschenden Politklasse hörten gar gänzlich auf. Dafür verschwand mit dem serbischen Expräsidenten Ivan Stambolic erstmals ein Oppositioneller - bis heute spurlos.

Zudem hat sich die Anti-Milosevic-Opposition gespalten. Vor der Ausschreibung der Wahlen waren sich die serbischen Oppositionsparteien und die Führung Montenegros einig gewesen: Da demokratische Verhältnisse nicht garantiert werden könnten, wollten sie zusammen jede Wahl boykottieren, die das Regime ausrichten würde. Milosevic wäre so jegliche demokratische Legitimation entzogen worden. Doch mit der Aufstellung eigener Kandidaten hat Serbiens Opposition nicht nur ihr Bündnis mit der montenegrinischen Führung zerbrochen. Die Oppositionsparteien haben Milosevic Wahlen damit auch anerkannt - und zwar lange vor dem eigentlichen Wahlkampf. Die gebetsmühlenartig wiederholte Kritik an den undemokratischen Umständen der Abstimmung und an den Repressionsmaßnahmen des Regimes ändert nichts daran. Wenn die Opposition diese Position jetzt nach ihrer Teilnahme an der Abstimmung ändert, manövriert sie sich ins politisch Aus.

Das gilt auch für die internationale Gemeinschaft. Auch die westlichen Balkan-Politiker konnten sich nicht dazu durchringen, die Wahlen von Anfang an als illegitim zu brandmarken. Auch im Kosovo durfte gewählt werden - obwohl niemand weiß, wie viele Menschen dort leben. Wahlmanipulationen aller Art wurde so Tür und Tor geöffnet - was die UN-Verwaltung aber nicht zum Thema machen kann, ohne mit der Frage konfrontiert zu werden, ob das denn nicht absehbar gewesen sei.

Milosevic kann sich also zufrieden zurücklehnen. Die vereinte Front seiner Gegner in Serbien, Montenegro und im Westen existiert nicht mehr. Die eigene Klientel hat sich wieder eng um den Führer geschart. Niemand kann mehr ernsthaft ein Wahlergebnis anfechten, dessen Legitimität und Legalität von Anfang an zweifelhaft war - niemand außer Montenegro. Die Führung der kleineren Teilrepublik Jugoslawiens bleibt also als einziger echter Gegner des Belgrader Potentaten auf dem Feld zurück. Und Milosevic hat nun Zeit und Mittel, sich ihrer anzunehmen.