Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Was der Nahe Osten heute ist, war der Balkan gestern

Hundert Jahre Krieg und Vertreibung: Arte blickt auf den Zerfall Jugoslawiens und fragt, was aus der Krisenregion wurde, nachdem sich die Weltaufmerksamkeit von ihr abwandte | Von Michael Martens

Vor einem Vierteljahrhundert blickten Europa und die Welt zehn Jahre lang mindestens so intensiv, wie sie heute den Schrecken der Kriege im Nahen Osten folgen, auf den Balkan. Vom serbischen Angriff auf Vukovar 1991 bis zur Einhegung der Kämpfe in Mazedonien durch eine Intervention der Nato 2001 hielten Kriege und „ethnische Säuberungen“ der Region die Welt in Atem. Die Memoiren Bill Clintons, Madeleine Albrights und anderer Handelnder von damals belegen: Was heute der Nahe Osten ist, war gestern der Balkan.

Darum geht es an diesem Dienstag auf Arte. Der Themenabend zum Balkan beginnt mit einer zweiteiligen Dokumentation zur Geschichte Jugoslawiens, eines gescheiterten Vielvölkerstaates, der errichtet wurde auf den Trümmern zweier gescheiterter Vielvölkerimperien, des osmanischen und des habsburgischen, bevor er an ähnlichen inneren Widersprüchen wie diese zerbrach. „Illusion Jugoslawien“ lautet der Titel, der bei Jugonostalgikern auf Einspruch stoßen wird. Doch die Zeit, da das 1918 gegründete Jugoslawien als politisch wenigstens halbwegs wetterfestes Konstrukt gelten konnte, war wahrlich kurz. Die Ermordung des Kroatenführers Stjepan Radic 1928, erschossen von einem montenegrinischen Abgeordneten im Parlament in Belgrad, vergiftet das Klima zwischen Kroaten und Serben entscheidend. In Kroatien kommt es zu Demonstrationen unter der Losung „Für dein Blut werden noch ihre Kinder büßen“.

Der Mord an Jugoslawiens König Alexander 1934 in Marseille war lange vor Kennedy das erste Attentat auf einen Staatschef vor laufenden Kameras. Der Mörder: ein mazedonischer Terrorist, gedungen von kroatischen Faschisten, die mit der deutsch-italienisch-ungarisch-bulgarischen Besetzung Jugoslawiens 1941 die Macht in einem Großkroatien von Hitlers Gnaden übernehmen. Serben müssen darin eine gelbe Armbinde mit dem Buchstaben „P“ für „pravoslavni“ (orthodox) tragen, werden vertrieben oder getötet. Dann geht bald der blutige Stern von Titos Partisanen auf. Am 25. Mai 1944 entkommt Tito in seinem Versteck in Bosnien einem Überfallkommando deutscher Fallschirmjäger nur mit Glück. Für den Rest seines Lebens feiert er diesen Tag als seinen eigentlichen Geburtstag.

Auch in Titos Jugoslawien herrscht Gewalt. Auf Goli Otok, der jugoslawischen Gefängnisinsel, werden Menschen zu Tausenden gefoltert. Wenig weiter auf Brioni, seiner traumhaften Residenz unter Palmen, umgibt sich der sozialistische Sonnenkönig Tito außer mit den wilden Tieren seines Privatzoos gern mit Schauspielgrößen wie Richard Burton, Elizabeth Taylor und Sophia Loren. Immerhin, Jugoslawien ist ungleich offener als alles, was sich noch sozialistisch nennt in Europa. Es ist ein Staat der sozialistischen Welt, der abstrakte Kunst, Rockmusik und moderne Literatur duldet, gar subventioniert. Und das bei offenen Grenzen - wer will, kann gehen.

Doch Diktatoren schaffen sich selten Nachfolger. Als Tito 1980 stirbt, hinterlässt er zwanzig Milliarden Dollar Auslandsschulden und eine marode Wirtschaft. Inflation 1990: 2600 Prozent. Die Wirtschaftskrise schürt das Gift des Nationalismus, ein Antidot ist nicht in Sicht, obschon in den achtziger Jahren einige westliche Journalisten und Diplomaten glauben, der Serbe Slobodan Miloševic sei Jugoslawiens Gorbatschow. Doch Miloševic Versuch, den Staat zu übernehmen, scheitert spätestens auf dem 14. Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens in Belgrad 1990, als Slowenen und Kroaten serbische Bevormundung zurückweisen. Der Film endet mit einem Witz. Verzweifelt rufen Serben, Kroaten und Bosnier an Titos Grab: „Tito, komm zurück!“ Aus dem Grab kommt die Antwort: „Ich bin doch nicht blöd!“

Man muss nicht alle Schlüsse der Filme teilen, um sie als gute Einleitung zur dritten Dokumentation des Abends zu empfinden. Die Journalisten Rüdiger Rossig und Zoran Solomun widmen sich in „Bosnien und Kosovo. Europas vergessene Protektorate“ dem Ist-Zustand: Was passiert in einer befriedeten Kriegsregion, nachdem Kameras und Krisenvermittler zum nächsten Brennpunkt weitergezogen sind?

Seit dem Einmarsch der Nato-Truppen mit 50 000 Soldaten in das Kosovo 1999 hat die EU dort angeblich mehr als 3,5 Milliarden Euro ausgegeben, das Zwanzigfache der Summe, die pro Kopf in andere Entwicklungsländer ging. Und Bosnien, so der Wirtschaftswissenschaftler Žarko Papic, habe in den ersten sechs Jahren nach Kriegsende 1995 siebzig Milliarden Dollar an Hilfe erhalten. Warum gehören das Kosovo und Bosnien dann zu den ärmsten Staaten Europas? Korruption ist ein Teil der Antwort, die der Film in einem Graffiti einfängt: „Ich wähle, du wählst, er/sie wählt, wir wählen, ihr wählt - sie bereichern sich“. Hinzu kommt: Die Helfer helfen vor allem sich selbst. Die Rechtsstaatsmission Eulex im Kosovo, „die größte Ansammlung von EU-Mitarbeitern außerhalb von Brüssel“, wie es im Film heißt, hat ein Jahresbudget von mehr als hundert Millionen Euro und fast 2000 Angestellte. Deren Gehälter zählen als Hilfe fürs Kosovo, doch die Behörde verwaltet zuvörderst sich selbst, große Korruptionsfälle im Kosovo ignoriert sie. „Man kann Korruption nicht bekämpfen, indem man ein paar kleine Beamte auswechselt“, sagt die kosovarische Enthüllungsjournalistin Arbana Xhara. Dabei sei es doch einfach, Korruption zu finden: „Du kannst kein Millionär sein und offiziell das Gehalt eines Abgeordneten des kosovarischen Parlaments verdienen.“ Ähnlich in Bosnien, wo der Diplomat Valentin Inzko und sein „Büro des Hohen Repräsentanten“ viel Geld für proeuropäische Effekthascherei erhalten. Die osmanische Altstadt von Prijedor wurde mit internationaler Hilfe neu aufgebaut. „Aber niemand lebt in den neuen Häusern. Denn in Prijedor gibt es keine Arbeit, weder für Serben noch für Muslime“, so die Filmemacher.

„Als die internationalen Bürokraten ins Kosovo kamen, versprachen sie uns eine Marktwirtschaft. Aber was wir bekamen, ist ein Markt ohne Wirtschaft“, stellt der kosovarische Oppositionsführer Albin Kurti fest. Das klingt gut, und der Film greift die These auf. In Bosnien etwa sei die Wirtschaftsmisere Folge einer von der Staatengemeinschaft erzwungenen Turboprivatisierung: „Als große internationale Unternehmen begannen, sich für die bosnische Wirtschaft zu interessieren, war sie nichts mehr wert“, wird behauptet. Nur überzeugt das nicht. Viele bosnische Unternehmen waren nämlich schon lange vorher nichts mehr wert. Zwar kam es im einstigen Jugoslawien oft zu Fällen von Raubritterprivatisierung, doch insbesondere Bosniens Industrialisierung zu sozialistischer Zeit war ein am Markt vorbeigeplanter Witz, der seine Pointe verlor, als Jugoslawien zerfiel. Die verfehlte Industrialisierung Bosniens ist längst empirisch belegt. Der Balkan ist (auch) selbst schuld an seiner Misere. Die Frage, was eine EU-Mitgliedschaft daran ändern kann, böte genug Stoff für einen eigenen Film.

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