Warum sollte man ein Buch über eine Diktatur lesen, nachdem diese gestürzt wurde? Der bei dem Berliner Kleinstverlag "b_books" erschienene Band "belgrad interviews" beantwortet die Frage bereits im Untertitel: hier geht es nicht nur um Jugoslawien nach dem Kosovokrieg, sondern auch darum, wie die Gesellschaft dort "nach 15 jahren nationalistischem populismus" aussieht. Die über 200 Seiten bieten denn auch weniger eine weitere Beschreibung des Milosevic-Regimes; die Gespräche, die die Autorinnen Katja Diefenbach und Katja Eydel geführt haben, kreisen vielmehr um die Frage, wie sich das weltoffene, multikulturelle Jugoslawien der Sechzigerjahre zum ethnonationalen Hexenkessel der Neunziger wandeln konnte.
"belgrad interviews" beschreibt detailliert, wie eine für europäische Verhältnisse normale zivile Gesellschaft zerschlagen wurde. Die Tito-kommunistischen Machthaber wollten jedwede Opposition zerstören, indem sie die jugoslawische Bevölkerung zwangsweise in mehrere Nationalitäten aufspalteten. Diese wurden dann von ihren jeweiligen Nationalbewegungen so zugerichtet, dass die "ethnischen Säuberungen" der Neunziger stattfinden konnten.
16 JugoslawInnen und einen englischen Hilfsarbeiter befragten die Autorinnen. In den "Gesprächen" wird das alte, mondäne Jugoslawien für einen Moment wieder fühlbar - als ganz normales, europäisches Land mit einer ganz normalen, europäischen Linken, die noch dazu in regem Austausch mit GenossInnen in anderen Ländern stand. In den späten Sechzigern gab etwa die undogmatisch-marxistische "Praxis"-Gruppe wichtige Impulse für linke Diskussionen auch im Westen. Nachdem die jugoslawische Führung 1971 Panzer gegen die nationaldemokratische Bewegung "Kroatischer Frühling" eingesetzt hatte, wurden "Praxis" und andere linke Gruppen in Jugoslawien von den Tito-Kommunisten zerschlagen.
Viele der Gesprächspartner von Diefenbach und Eydel tauchten anschließend in den Kulturbetrieb ab, der vom totalitären Anspruch der Partei weitgehend verschont geblieben war. In mehr oder minder geschützten Räumen, etwa im in den Achtzigern avantgardistischen Belgrader "Studenten-Kulturzentrum" SKC, konnten Linke wie die heute in Berlin lebende Kunsthistorikerin Bojana Pejic weiter an ihren Projekten arbeiten - bis sich die mittlerweile dominierenden Ethnopupulisten Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger an die Schleifung der letzten Bastionen der zivilen Gesellschaft machten.
Seit Beginn der Kriege um Exjugoslawien haben vor allem westliche Beobachter immer wieder erstaunt gefragt, wie ein nationaler und damit antagonistischer Konflikt im heutigen Europa ausbrechen konnte. Wer so fragt, weiß nicht, dass der nationalpopulistische Diskurs in Jugoslawien nicht immer beherrschend war. Diefenbach und Eydel arbeiten die Bedingen heraus, unter denen der Nationalchauvinismus auf dem Balkan seinen Siegeszug antreten konnte. Eine dieser Bedingungen: Es fehlte eine starke, linke Gegenbewegung, wie die befragten Gesprächspartner, die sich allesamt der politischen Linken zugehörig fühlen, selbstkritisch einräumen.
Angesichts der Entwicklung einer dominanten völkischen Massenkultur in Norditalien, im Baskenland, in der ehemaligen DDR, aber auch in der alten Bundesrepublik und anderen Teilen Europas erscheint das, was die Gesprächspartner in "belgrad interviews" zu erzählen haben, hochaktuell. Denn beim Lesen drängt sich der Verdacht auf, Exjugoslawien sei viel weniger ein Hort der Anti-, als vielmehr eine Brutstätte der Postmoderne.
In diesem Fall wäre der Ethnonationalismus aber keine antagonistische Ideologie, sondern vielmehr eine Variante eines Populismus, den wir Westeuropäer von Le Pen, Haider oder Berlusconi nur allzu gut kennen. Dass der Nationalpopulismus in Jugoslawien nicht von bösen Großkapitalisten, frustrierten Kleinbürgern oder verarmenden Proleten, sondern von einer exkommunistischen Bürokratenkaste instrumentalisiert wurde, tut dabei nichts zur Sache.
Katja Diefenbach / Katja Eydel: belgrad interviews, b_books, Berlin 2000, 225 Seiten, 28 DM