Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Reintegration erzeugt Toleranz

Die Unruhen im Kosovo waren kein Ausdruck der permanenten Gewalt in der Krisenprovinz, sondern eine Folge falscher Politik. Eine Antwort auf Andrej Ivanji | Von Paul Hockenos

Über den erneuten Gewaltausbruch im Kosovo war ich genauso wenig überrascht wie Andrej Ivanji (taz vom 22. März). Aber seine Analyse der Ereignisse entspricht nicht der Realität und führt in eine Sackgasse.

Bei den jüngsten Ereignissen im Kosovo handelt es sich nicht um eine systematische Kampagne ethnischer Säuberung und schon gar nicht um "Genozid" oder "Massenmord" - Ziele, die Ivanji den Kosovo-Albanern im Besonderen und den Völkern des Balkan im Allgemeinen zynisch unterstellt. Tatsächlich war der Aufruhr vom März diesen Jahres vor allem ein spontaner Aufstand. Dieser wurde von extremistischen Elementen auf der albanischen Seite ausgenutzt, deren Ambitionen an einem Punkt mit denen der serbischen Nationalisten übereinstimmen: Beide wollen eine Teilung des Kosovo.

Obwohl dies nicht das Verhalten der Täter entschuldigt, ist es verständlich, dass die Albaner mit der unentschlossenen Verwaltung der Provinz durch die Mission der Vereinten Nationen im Kosovo, Unmik, höchst unzufrieden sind. Weder politisch, d. h. bezüglich der Frage des künftigen völkerrechtlichen Status der Provinz, noch wirtschaftlich hat das internationale Protektorat den Kosovo-Albanern eine Zukunftsperspektive bieten können. Da die Statusfrage ein Thema bleibt, bei dem Albaner und Serben unüberbrückbar gegensätzliche Positionen einnehmen, hätte die internationale Gemeinschaft ihr Möglichstes tun müssen, um den einfachen Bürgern des Kosovo andere, greifbare Ergebnisse zu präsentieren, etwa im Form wirtschaftlicher Entwicklung und eines sichtbaren Ausbaus der Infrastruktur.

Stattdessen wurde, wie zuvor schon in Bosnien-Herzegowina, viel Energie und viel Geld in so genannte Demokratisierungsmaßnahmen und in die Unterstützung der Zivilgesellschaft investiert. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde auf verantwortungslose Weise vernachlässigt. Das gilt besonders für den Aufbau eines lebensfähigen privaten Sektors. Nach einem kurzen, durch den Wiederaufbau direkt nach dem Krieg verursachten Boom stagnierte die Wirtschaft im Kosovo. Ähnlich wie die Nachbarländer durchlebt die Provinz eine schwierige Phase der Deindustrialisierung. Bankrotte staatliche Firmen schließen, ihre ehemaligen Angestellten kehren zur Subsistenzwirtschaft zurück und bestreiten ihr Auskommen in der Landwirtschaft - wie ihre Großväter. Auf dem Land ist der Lebensstandard heute niedriger als in den Neunzigerjahren unter Milosevic. Erschwerend kommt hinzu, dass junge Kosovaren im Gegensatz zu ihren Vätern nicht mehr auswandern können, um anderswo zu arbeiten. Das Tor zum Westen, das seit Einführung der Reisefreiheit für Jugoslawen Mitte der Sechzigerjahre immer offen war, ist heute verschlossen, weil Westeuropa heute keinen Bedarf mehr an billigen Arbeitskräften hat und Kosovaren seit Ende des Krieges kein Asyl mehr erhalten.

Trotz dieser und zahlreicher anderer Probleme war die Situation im Kosovo nicht permanent von Gewalt geprägt. Im Gegenteil: Nach den Morden und Vertreibungen unmittelbar nach dem Krieg hatte sich die Situation beruhigt. Nach Angaben der UN-Polizei wurden 2002 im Kosovo 68 Morde begangen - im Schnitt also weniger als in Schweden im selben Zeitraum. Von den Ermordeten waren sechs Serben, von denen nur zwei von Albanern getötet wurden. Erst mit dem Regierungsantritt Vojislav Kostunicas in Serbien begann das Klima rauer zu werden. Bereits im Wahlkampf hatte Kostunica das Thema Kosovo erfolgreich eingesetzt, obwohl jeder informierte Serbe nur zu gut weiß, dass die Provinz für Serbien verloren ist und ihr Status keinerlei Einfluss auf das ohnehin schwierige Leben der Menschen in Serbien hat.

Der Ton aus Serbien verunsichert die Albaner, die nichts mehr fürchten als eine erneute serbische Herrschaft im Kosovo. Dabei will Serbien längst nicht mehr das ganze Kosovo beherrschen, sondern nur einen Teil davon, den nach Belgrader Vorstellung künftig "ethnisch reinen" Norden. Die serbische Elite hat kein Interesse an einem multiethischen Kosovo, in dem Serben über die ganze Provinz zerstreut leben und zusammen mit Albanern regieren. Jedes Ereignis, das Serben vom Süden in die nördlichen Enklaven treibt, bringt sie ihrem Ziel ein Stück näher. Das ist auch den Extremisten auf der albanischen Seite, einem winzigen Teil der Bevölkerung, dienlich, die ebenfalls ein geteiltes, ethnisch homogen albanisches Kosovo wollen.

Die internationale Gemeinschaft spielt den Nationalisten in die Hände, wenn sie hilft, ethnische Enklaven zu erhalten, anstatt die Rückkehr und die Reintegration von Flüchtlingen zu unterstützen. Denn damit folgt sie der Logik ethnischer Teilung. In Bosnien hingegen hat die internationale Gemeinschaft die Rückkehr der Flüchtlinge unterstützt. Mit hervorragenden Ergebnissen: Wo Kriegsverbrecher verhaftet und Eigentumsverhältnisse geklärt würden, gehen die Flüchtlinge, die dies wollen, selbst in kriegsverwüstete Teile der Republika Srpska zurück. Dort, wo Nachbarn aus verschiedenen Ethnien wieder Seite an Seite leben, sind die Spannungen am geringsten.

Eine der Lehren aus Bosnien ist: Mehr - nicht weniger - Reintegration erzeugt Toleranz und begründet friedliche Koexistenz. Das Verhalten der Kosovo-Albaner muss folglich mit demselben Maß gemessen werden wie das der bosnischen Serben. Wenn es ihnen nicht gelingt, für die Sicherheit von Mitbürgern anderer Nationalität zu sorgen, dann müssen sie damit rechnen, internationale Hilfe zu verlieren. Offenbar ist das den kosovo-albanischen Politikern bewusst. Deshalb haben sie versprochen, alle zerstörten serbischen Häuser und Kirchen aus eigenen Mitteln wieder aufzubauen.

Zudem müssen die Täter der Gewalttaten im März von den zuständigen kosovarischen Institutionen bestraft werden - oder, wenn diese das nicht leisten, von der internationalen Gemeinschaft. Diese muss zudem mindestens drei Maßnahmen sowohl im Kosovo als auch auf dem ganzen Balkan ergreifen, wenn sie positive Resultate erreichen will: Erstens muss die internationale Wirtschaftspolitik überdacht und zur ersten Priorität erklärt werden. Zweitens muss die Europäische Union den Ländern des ehemaligen Jugoslawien eine ernsthafte Beitrittsperspektive eröffnen. Vor allem dadurch kann Europa die regionalen Regierungen nachhaltig beeinflussen. Dies ist aber nur möglich, wenn die Aussicht einer EU-Mitgliedschaft überzeugend und die Zusammenarbeit bereits im Vorfeld eng ist.

Schließlich darf die internationale Gemeinschaft eine ethnische Teilung, sei es in Form von Kantonisierung, Teilstaaten oder permanenten Enklaven, nie wieder als Lösung in Betracht ziehen. Das ist eine weitere Lehre aus Bosnien. Die scheinbare Logik ethnischer Teilung und homogener Nationalstaaten funktioniert nicht als Fundament für anhaltende Stabilität in Europa.


Aus dem Englischen: RR