Die Mittel, die der serbische Staat bei der Jagd nach den Mördern von Premierminister Zoran Djindjic einsetzt, sind brachial. Überall in dem 10-Millionen-Einwohnerland patrouilliert Militär. Schwer bewaffnete Polizisten kontrollieren willkürlich Fahrzeuge und Passanten. Weit über tausend Menschen wurden festgenommen, zwei Verdächtige erschossen. Die Mahnungen ausländischer Menschenrechtsgruppen sind ernst zu nehmen - gerade weil sich in Serbien selbst kein Protest gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte zu formieren scheint.
Es ist nicht nur der Schock über das Attentat, der die serbische Öffentlichkeit lähmt. Es ist eine ambivalente Haltung gegenüber dem Staat. Zwar ist allen Bürgern Serbiens klar, dass dieser Staat bedroht ist. Darum nehmen sie es hin, dass auch Unbeteiligte in Mitleidenschaft gezogen werden. Andererseits fällt auf, dass bei vielen Aktionen der Sicherheitsbehörden unklar ist, ob die Staatsmacht gegen Gangster kämpft - oder ob alte Rechnungen beglichen werden, die nichts mit dem Mord am Premier zu tun haben.
Bisher wurden fast alle Mitglieder des nach dem Belgrader Vorort Zemun benannten Clans festgenommen - aber niemand aus dem Umfeld der konkurrierenden Bande aus Surcin. Die Organisation der Aktionen liegt beim Chef der uniformierten Polizei, Sreten Lukic, und beim Befehlshaber der Gendarmerie, Goran Radosavljevic. Beide entstammen einem ähnlichem Umfeld wie der mutmaßliche Auftraggeber für den Mord an Zoran Djindjic, Milorad Lukovic, und der verhaftete Todesschütze Zvezdan Jovanovic - nur dass sie einer anderen Connection angehören.
Die Verquickung von Staat und Kriminalität hat in Serbien Geschichte. In den Achtzigerjahren ließ das sozialistische Jugoslawien schmutzige Aufgaben von Kriminellen ausführen. In den Neunzigern wurde das staatliche Gewaltmonopol dann de facto teilprivatisiert. Das Regime von Präsident Slobodan Milosevic vergab Aufträge an Unterweltgrößen. Während der Kriege in Kroatien und Bosnien leisteten sie die Drecksarbeit für die Belgrader Militärmaschine - und hielten sich bei dieser Gelegenheit an der vertriebenen Bevölkerung schadlos. Ganz wie die Armeen im Dreißigjährigen Krieg finanzierte sich der groß-serbische Gewaltapparat selbst. Die Gangster häuften somit gewaltige Mengen Kapital an. Und damit auch Macht.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind Kriminelle tief in den serbischen Staatsapparat eingedrungen. Neben humanitärer und wirtschaftlicher Hilfe hätte das Land sofort nach dem Sturz Milosevic massive Unterstützung bei einer Reform von Polizei und Justiz gebraucht. Dieses Versäumnis rächt sich jetzt. Nach dem Mord an Djindjic geht es nicht mehr darum, einen Paten auszuschalten, nur damit ein anderer seinen Platz einnimmt, der früher oder später erneut versucht, das staatliche Gewaltmonopol zu privatisieren. Es geht um die Frage: Mafia oder Staat?
Wenn es in Serbien jetzt nicht gelingt, mit der organisierten Kriminalität aufzuräumen, dann wird es dort lange Zeit nichts geben, was den Begriff Staat verdient. Im benachbarten Albanien kann man sich anschauen, was das bedeutet: Seit Anfang der Neunzigerjahre hat keine Regierung mehr das gesamte Staatsgebiet kontrolliert. Heute ist Albanien ein Paradies für Kriminelle, die von dort aus ungestört mit allem handeln, was Geld bringt: mit Waffen, Drogen, unverzollten Zigaretten und Menschen.
Es liegt im ureigensten Interesse der EU-Staaten, die Entstehung eines weiteren kriminellen Eldorados in Südosteuropa zu verhindern. Dazu jedoch braucht es weit mehr als die rund 40 Millionen Euro, die Bundesentwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul Djindjic Nachfolger Zoran Zivkovic versprochen hat. Auch ein Abkommen zur Umwandlung der 25 Millionen Euro, die Serbien der Bundesrepublik schuldet, ist angesichts des Zustands der dortigen Wirtschaft nichts anderes als ein Sahnebonbon für einen Verhungernden. Angesagt ist ein völliger Schuldenerlass.
Mindestens genauso dringend braucht Serbien massive Hilfen bei der Reform des staatlichen Apparats. Bevor Polizei und Justiz effektiv gegen die organisierte Kriminalität vorgehen können, muss noch manche Spezialeinheit aufgelöst werden. Dafür braucht Serbien zuallererst Geld zur Bezahlung von Polizisten und Justizangestellten, die sich dem Staat und dessen Gesetzen verpflichtet fühlen - und nicht etwa informellen Netzwerken aus nationalistischen Extremisten und Kriminellen. Staatsdiener, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegt, sind nicht loyal.
Zudem benötigt die künftige Polizei eines demokratischen Serbien Schulungen von außen. Im Gegensatz zur Säuberung des Apparats ist das eine langfristige, teure Aufgabe. Den maroden serbischen Behörden allein wird sie nicht gelingen. In Bosnien hat die internationale Gemeinschaft gezeigt, dass sie bei der Ausbildung von Sicherheitskräften effektiv helfen kann. Die Internationale Polizei der Vereinten Nationen (IPFT) hat über sechs Jahre hinweg tausende Staatsdiener mit moderner Polizeiarbeit vertraut gemacht - ihre Arbeit war eine der wenigen erfolgreichen Projekte der Staatengemeinschaft in Bosnien.
Nur Polizisten, die regelmäßig Kurse zu Themen von Untersuchungsmethoden über Gesetze und Verordnungen bis hin zu internationalen Menschenrechtsstandards besuchten, wurden zum Dienst in der neuen bosnischen Polizeitruppe zugelassen. Das hat Milliarden gekostet - aber auch einiges verändert. Aus einem schlampigen, unhöflichen, schlecht bezahlten Haufen, in den kein Bürger Vertrauen hatte, ist ein moderner Polizeiapparat geworden, der in der Lage ist, auch in schwierigen Situationen adäquat zu reagieren.
Zudem sollte der serbischen Bevölkerung klar signalisiert werden, dass die Welt zwei Jahre nach dem Sturz Milosevic bereit ist, ihr Land wieder als normales Mitglied der Staatengemeinschaft zu behandeln. Ideal wäre die Aufhebung der Visumpflicht für alle Inhaber serbischer Pässe. Bis Kriegsbeginn 1991 hatten alle Jugoslawen ohne Visum in Westeuropa reisen können. Die Visumpflicht war eingeführt worden, weil der Westen einer Massenflucht vorbeugen wollte. Dazu besteht mittlerweile kein Anlass mehr. Die serbische Regierung hat die Visumpflicht für EU-Bürger, die 1991 ebenfalls eingeführt worden war, zum 1. April aufgehoben. Die EU sollte diesem Vorbild folgen.
Alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens müssen dringend stärker in die internationalen und v. a. die europäischen Institutionen eingebunden werden. Eine sofortige Aufnahme in die EU wäre wünschenswert, ist aber utopisch. Jetzt muss diskutiert werden, was das richtige Mittel zur Integration des Balkans ist: eine klare Beitrittsperspektive, ein Assoziierungabkommen oder ein echter Balkan-Stabilitätspakt statt einer Behörde mit Sitz in Brüssel, die ihre Hauptaufgabe im Organisieren von Konferenzen sieht.