Wo steht die Republik Bosnien und Herzegowina [1] 20 Jahre nach dem Friedensabkommen, das am 21. November 1995 in der Wright-Patterson US-Air Force Base bei Dayton im US-Bundesstaat Ohio paraphierte wurde?
Sicher ist: Der "Dayton"-Vertrag, der am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet wurde, beendete nach über dreieinhalb Jahren den Krieg in der ex-jugoslawischen Republik [2]. Aber wurde damit auch ein Zustand erreicht, den man mit gutem Gewissen Frieden nennen kann? Oder herrscht in Bosnien seit 20 Jahren nicht viel mehr als ein brüchiger Waffenstillstand?
Diese beiden Fragen beschäftigten knapp drei Stunden lang vier Podiumsgäste und einen für dieses Thema ungewöhnlich gut gefüllten Saal bei der Diskussionsveranstaltung, die am Abend des 15. Dezember 2015 in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung stattfand und zudem dank des Kooperationspartners Inforadio Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) fünf Tage später zwei Mal in voller Länge per UKW einem noch größeren Publikum zugänglich gemacht wurde.
Über die zahlreichen Gäste freute sich Ralf Fücks, Mitglied des Vorstands der Heinrich-Böll-Stiftung, zu Beginn seiner Einleitung. 20 Jahre Dayton seien "ein Datum, das man trotz der spürbaren Bosnien-Müdigkeit in weiten Teilen der deutschen und europäischen Öffentlichkeit" nicht übergehen könne. Denn der Bosnienkrieg sei in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt gewesen.
"Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg kam es in Europa zu ethnischen Säuberungen und Massakern, Hunderttausende starben, Millionen wurden zu Flüchtlingen, viele von ihnen in Deutschland. Erst die Ermordung von mindestens 8.000 Jungen und Männern in Srebrenica im Sommer 1995 setzte die Staatenwelt endlich unter Handlungsdruck: Bosnien wurde zum ersten Out of Area-Einsatz der Nato, versehen mit einem Mandat der Vereinten Nationen."
Eine Zäsur sei der Bosnien-Konflikt auch für die Grünen gewesen, so Fücks weiter: "Sie sprangen nach Jahren der Kontroverse erstmals über ihren pazifistischen Schatten und stimmten der Beteiligung der Bundeswehr am Bosnien-Einsatz zu." Dabei sei nicht erst 1995 klar gewesen, dass es bei den Kämpfen in der ex-jugoslawischen Republik um europäische Werte ging – um Demokratie, Bürgergesellschaft und Multikulturalismus.
"Warum hat die Verletzung dieser Werte in den Jahren vor 1995 keine stärkere Reaktion hervorgerufen?" Diese Frage habe damals Fücks selbst und eine kleine Minderheit in der grünen Partei umgetrieben, die schon zu Beginn des Bosnienkrieges für eine humanitäre Intervention eingetreten waren.
Das Abkommen von Dayton hatte für Fücks von Anfang an einen zwiespältigen Charakter: "Es beendet den Krieg und schuf die verfassungsrechtlichen Grundlagen für einen souveränen bosnischen Staat. Zugleich aber schrieb es die ethnische Spaltung des Landes fest und legitimierte faktisch die territorialen Eroberungen der serbischen Milizen."[3]
Wer heute das Versagen der bosnischen politischen Eliten beklage, solle sich der Mitverantwortung des Westens für die bosnische Misere bewusst sein - zuerst während des Krieges durch die jahrelange Passivität; und dann durch ein Friedensabkommen, dass viele als dauerhaften Konstruktionsfehler betrachteten.
Als zentrale Fragen an die Podiumsgäste – den österreichischen Diplomanten und amtierenden "Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina" [4] (HR) Valentin Inzko, die grüne MdB Marieluise Beck, den bosnischen Politiker Dennis Gratz und den aus Bosnien stammenden Juristen Zlatko Bajić – definierte Fücks:
"Wie fällt 20 Jahre später die Würdigung der Verhandlungen aus, die zum Ende des Krieges führten? Welche Fortschritte hat das Land unter den von Dayton gesetzten Rahmenbedingungen gemacht? Wie hat sich die bosnische Gesellschaft seit 1995 verändert? Und wie blickt vor allem die junge Generation in Bosnien auf die heutige Situation? Wie ist die internationale Gemeinschaft ihrer Bedeutung für den Friedensprozess gerecht geworden? Und welche Rolle sollten EU und HR bei der Überwindung der internen Blockaden in der bosnischen Politik heute spielen?"
Inforadio-Moderator Dietmar Ringel, der die Diskussion durchgängig nicht nur hochprofessionell sondern auch sehr aktiv leitete, übergab an HR Valentin Inzko mit der Frage, ob 20 Jahre Dayton ein Grund zu feiern seien – was dieser zugleich bejahte und einschränkte:
"Dayton ist eines der besten Friedensabkommen in der Geschichte – wobei man aber die ersten und die letzten 10 Jahre, die seitdem vergangen sind, unterscheiden muss. Anfang 1996 war Bosnien ein Land mit 100.000 Toten, ohne Staatsfahne, ohne Hymne, ohne Währung oder anders gesagt alles mal drei: eine bosniakische, eine kroatische und eine serbische Fahne, drei Hymnen usw. Es gab keine einheitlichen Nummernschilder, keine Grenzpolizei, man kam am Flughafen von Sarajevo an und es gab keinerlei Kontrolle, wer in das Land hineinkam oder wer es verließ."
Heute kontrolliere dort genauso wie an allen anderen Grenzübergängen eine bosnisch Grenzpolizei. "Es gibt eine Fahne, eine Hymne und eine unbeliebte, aber höchst effiziente Behörde: die Steuerbehörde, die in den vergangenen 10 Jahren 29 Milliarden Euro Steuern kassiert hat."
Das größte Wunder aber sei, dass es vor 10 Jahren gelungen sei, aus drei Armeen und zwei Verteidigungsministerien eine Armee und ein Verteidigungsministerium zu formen. Insgesamt gäbe es heute neun Ministerien auf Ebene des bosnischen Gesamtstaates. Zudem ermöglichten biometrische Reisepässe es den Bürgern seit einigen Jahren, ohne Visa zu reisen.
"Seitdem aber, " so Inzko abschließend, "gab es nicht nur Stillstand, sondern sogar Rückschritte. Dem stimmte Dennis Gratz, Rechtsanwalt und Abgeordneter der nicht-nationalistischen, sozialliberal orientierten Parte "Naša stranka" (Unsere Partei [5]) im Parlament der Föderation Bosnien und Herzegowina, nicht nur zu.
Für den 1978 geborenen Gratz, der 1993 als Flüchtling nach Deutschland kam, hier zur Schule ging und später, nach dem Jurastudium in Bosnien und Italien auch promovierte, ist das größte Wunder, dass Dayton überhaupt hielt. In den 10 Jahren nach 1995 sei der Befriedungs- und Stabilisierungsprozess durch die internationale Gemeinschaft sehr intensiv begleitet worden.
Dabei habe man darauf geachtet, den Gesamtstaat stetig auf Kosten der Entitäten zu stärken. Und genau das habe in den letzten zehn Jahren gefehlt. Die Bürger/innen würden einen starken HR vermissen, der seinen Einfluss – seit 1997 kann der HR aufgrund der "Bonner Vollmachten" [6] tief in die bosnische Politik eingreifen, u.a. indem er gewählte Politiker absetzt – auch nutzt.
Marieluise Beck erinnerte daran, dass auch HRs, die die Bonner Vollmachten voll ausgenutzt haben, in Bosnien nicht immer positiv gesehen wurden. Die internationale Gemeinschaft habe vor 10 Jahren begonnen, sich nicht mehr als Präfekt oder Gouverneur aufzuführen, sondern die Bosnier wie erwachsene Menschen zu behandeln.
"Es gab viel Hoffnung, dass im Laufe der Zeit aus der Bevölkerung heraus Kräfte wachsen würden, die das Land zu einer funktionierenden Demokratie aufbauen würden. Wir haben lernen müssen, dass das, was man als 'nation building' bezeichnet, oft ein enttäuschend langer Prozess ist."
An einigen Punkten, etwa der 2006 gescheiterten Verfassungsreform [7], hätte man diskutieren können, ob der HR seine Macht nicht hätte anwenden müssen, um die Reform zu retten. Heute aber gäbe es von außen – also seitens der Garantiemächte des Dayton-Abkommens [8] - nicht mehr die Kräfte, die geschlossen hinter einem HR stehen würden, der versuchen würde, etwas durchzusetzen.
"Das Verhältnis zwischen den USA und Russland hat sich massiv verschlechtert. Die Chance, dass sich die Garantiemächte von Dayton noch einmal zusammen finden und alle zusammen sagen: "So, wir ändern das jetzt und wer nicht mitmacht, wird abgesetzt', halte ich nicht für realistisch." so Beck.
Noch deutlicher wurde HR Inzko: "Bosnien ist nicht mehr aktuell, die internationale Politik ist mit Syrien beschäftigt." Bosnische Bürger würden ihn oft auffordern, "die Peitsche zu verwenden." Aber "local ownership" und Eigenverantwortung seien gute Philosophien, die in vielen postkommunistischen Staaten nach 1989 und in Deutschland und Österreich nach dem 2. Weltkrieg fantastisch funktioniert hätten.
Inzko habe seit seinem Amtsantritt als HR im März 2009 die Bonner Vollmachten 40-mal eingesetzt und 180 Politiker abgesetzt. Jetzt aber müsse man auf die lokalen Institutionen setzten: "Einen Politiker muss nicht der HR absetzen, das kann auch ein lokaler Staatsanwalt."
Zlatko Bajić, Doktorand der Rechtswissenschaften an der Universität Trier und wie Dennis Gratz als Kind als Flüchtling nach Deutschland gekommen betonte, dass viele ehemalige HR heute bereuten, die Bonner Vollmachten während ihres Mandats nicht stärker genutzt zu haben.
"Das Einzigartige an Dayton ist nicht, dass die Verfassung in den Friedensvertrag hinein diktiert wurde, sondern dass sie die Kriegsergebnisse zementiert hat. Ich ärgere mich, wenn jetzt die Bosnier aufgerufen werden, diese Verfassung selbst zu ändern. Denn Dayton von innen zu ändern, ist fast unmöglich – denn dafür braucht es laut eben dieser Verfassung einerseits eine Mehrheit von zwei Dritteln im Repräsentantenhaus, einer der beiden Kammern des bosnischen Parlaments – und die ist quasi nur mit den Nationalisten herstellbar, die niemals mitmachen werden."
Dennis Gratz fand die die Idee, dass diejenigen in Bosnien, die politisch aktiv sind, die Probleme des Landes lösen müssen, grundsätzlich richtig. Aber Dayton habe den unterschiedlichen Interessen der beiden Entitäten Verfassungsrang eingeräumt. Und zumindest in der Republika Srpska bestehe kein Wille, den gemeinsamen Staat funktionsfähig zu machen.
"Für uns als kleine, bürgerlich orientierte, nicht ethnische Partei ist es extrem schwer, in einem politischen System tätig zu sein, dass in der ethnischen Zugehörigkeit die Grundlage des politischen Handelns sieht. So haben wir ein Wahlgesetz, nachdem die drei Mitglieder des Staatspräsidiums in den ethnisch definierten Entitäten gewählt werden müssen; der Vertreter der Republika Srpska im Präsidium muss also nur von den Wählern dort gewählt werden – nicht von denen in der Föderation. Er ist also gar nicht auf Stimmen aus der anderen Entität angewiesen – und muss sich folglich auch nicht um deren Angehörige kümmern."
Naša Stranka habe vorgeschlagen, das Wahlrecht so zu ändern, dass alle Wahlberechtigen ihre Vertreter aufstellen und wählen können - unabhängig davon, wo sie leben. Aber eben das sei wegen Dayton nicht möglich.
Für Marieluise Beck ist die Dayton-Verfassung "ein demokratischer Sündenfall der internationalen Gemeinschaft". Üblicherweise würde Verfassungen nicht auf einem Militärflughafen zusammen gebastelt, sondern entstünden aus einem Volk heraus.
Im bosnischen Fall aber sei die Verfassung so konstruiert worden, dass alle drei konstituierenden Völker – also die bisherigen Kriegsparteien - auf allen politischen Ebenen repräsentiert seien. Das führe dazu, dass etwa im Staatspräsidium immer ein Bosniake, ein Kroate und ein Serbe – bzw. ein Muslim, ein Katholik und ein Orthodoxer – sitzen müssten.
"Also kann ein Bürger, der nicht diesen drei Ethnien oder Religionsgemeinschaften angehört, nicht Präsident werden kann. Das darf eine republikanisch denkende internationale Gemeinschaft nicht zulassen. Es muss gelten: One man oder one women – one vote."
Eben das hätten ein jüdischer und ein Roma-Bürger Bosniens 2006 auf die politisch-rechtliche Tagesordnung gesetzt und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat ihrer Klage 2009 stattgegeben [9]. Daraus hätte folgen müssen, dass das bosnische Parlament die Verfassung so ändert, dass jeder Bürger in jedes Amt gewählt werden kann. Das ist bis heute nicht geschehen – obwohl die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen an die Erfüllung dieser Auflage gebunden sei.
Dabei habe es vor dem Krieg es in Bosnien ethnisch 38 Prozent gemischte Familien gegeben. Erst nach Dayton sein ein Druck entstanden, sich zu definieren.
"Das kennen wir aus Deutschland, dass auf einmal Menschen, die gar keine Vorstellung davon hatten, dass sie zum Beispiel 'jüdische Wurzeln' hatten, gezwungen wurden, sich ethnisch zuzuordnen. Da hat die internationale Gemeinschaft das Spiel der Nationalisten mitgespielt. Das hätte nie passieren dürfen, " so Marieluise Beck.
In diesem Zusammenhang erinnerte Beck an die Volkszählung von 2013 [10], deren Ergebnisse bis heute nicht veröffentlicht wurden - "und das aus guten Gründen, denn dabei haben sich viele, viele Bosnier geweigert, die Frage nach ihrer Ethnie zu beantworten."
An dieser Stelle fragte Moderator Ringel, warum sich angesichts all dieser Missstände in Bosnien nicht mehr Unmut entwickle und erinnerte an die "Bosnischen Frühling" vom Februar 2014 [11]. Dennis Gratz erwiderte, dass die Nationalisten die Wahlen, die nach dem Volksaufstand abgehalten wurden, die gewonnen hätten.
"Die Menschen in Bosnien sind nach wie vor vom Krieg traumatisiert und haben Angst, dass es wieder knallen könnte. Sie wählen tendenziell die Parteien ihrer jeweiligen Ethnie, weil diese schon lange an der Macht sind und die finanziellen Mittel haben, um ihren potenziellen Wählern immer wieder klar zu machen: Frieden ist, solange wir regieren; wenn wir das nicht mehr tun, können wir für nichts garantieren."
Marieluise Beck fügte hinzu, sogar die postkommunistische Sozialdemokratie, die selbst während des Krieges immer darauf bestanden hat, eine nicht-nationalistische, nicht-ethnische, multikulturelle Partei zu sein, habe sich trotz zeitweise sehr guter Wahlergebnisse in den Sumpf des Nationalismus, des Schürens von Angst und des Appellierens an ethnische Zuordnung ziehen lassen.
Der Stoff, aus dem die ethnischen Konflikte in Bosnien gemacht würden, sei nach wie vor da – und das obwohl mittlerweile eine neue Generation im Frieden aufgewachsen sei, die Bosnier heute ohne Visum in die EU reisen und sich dort ansehen können, wie Menschen in nicht-ethnischen Demokratien leben. Offenbar gäbe es in der bosnischen Bevölkerung nicht die Kraft, die Nationalismen zu überwinden.
"Obwohl ich Dayton für einen großen Mist halte und meine, dass wir dafür eine Verantwortung tragen, bleibt für mich die Frage, warum die bosnische Gesellschaft keine entsprechende Debatte, keine Auseinandersetzung darüber führt, wie der Nationalismus überwunden werden kann."
Laut HR Inzko ist die Vergangenheit in Bosnien nach wie vor ziemlich aktuell. Täglich würden neue Massengräber gefunden, in Srebrenica sei bis heute nur die Hälfte der Opfer begraben. Angesichts dessen sei es kein Wunder, dass die Bürger Angst hätten, zumal diese nach wie vor geschürt werde.
"Die nationalistischen Parteien, die mittlerweile 20 Jahre an der Macht sind, können bis zu 200.000 Wähler beschäftigen, bei der Post, der Telekom, im öffentlichen Nahverkehr. Die meisten dieser Beschäftigten haben einen Ehepartner, der ebenfalls für die Partei stimmen wird, die der Familie Arbeit gegeben hat. Damit kann man locker Wahlen gewinnen."
Dennis Gratz fügte hinzu, selbst wenn seine Partei an der Macht wäre, könnte sie keine großen Reformen durchsetzen, denn die Dayton-Verfassung würde jede Regierung zwingen, mit den Nationalisten zu kooperieren. Das sei auch das Problem der Sozialdemokraten nach ihrem Wahlsieg 2010 gewesen.
"Das wissen die Menschen in Bosnien auch und daher gehen fast 50 Prozent der Wahlberechtigen gar nicht mehr wählen: Sie haben gelernt, dass sie mit ihrer Stimme nichts bewegen können. Wir von Naša Stranka versuchen, auf diese Leute einzuwirken und sie dazu zu bewegen, wenigstens wählen zu gehen und die nicht-ethnischen Parteien stärker zu machen. Aber für einen normalen Staat mit einer normalen politischen Landschaft – rechts, links, liberal, grün usw. - braucht es eine Änderung der Verfassung."
Marieluise Beck berichtete, dass es selbst nach der deutsch-britischen Initiative der EU vom November 2014 [12], wo von der Forderung nach einer Verfassungsänderung gemäß dem Urteil des EGMR abgerückt worden sei und stattdessen mit wirtschaftlicher Unterstützung gelockt wurde, zu keiner Reform gekommen sei. Dabei wüssten alle, die sich mit Bosnien beschäftigen, wie schlecht es der Bevölkerung geht.
"Ein Durchschnittseinkommen von 300 bis 400 Euro mitten in Europa, das ist wirklich sehr bescheiden. Aber ich fürchte, dass die Parteiführer keine Verantwortung für die Zustände im Lande empfinden, weil es ihnen ja gut geht: Sie sitzen warm und trocken, schlecht geht es der Bevölkerung."
An dieser Stelle erweise es sich als Drama, dass die internationale Gemeinschaft nicht dazu zurückkehren werde, die Bonner Vollmachten einzusetzen. Es gebe daher keine Alternative dazu, dass sich die Bevölkerung selbst am Schopf aus dem Sumpf zöge. Sie setze dabei auf die junge Generation in Bosnien, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt habe.
Dennis Gratz stimmte im Prinzip zu – verwies aber gleichzeitig darauf, dass es gerade die jungen Menschen seien, die massenhaft auswanderten: "Bosnien gehen die Leute aus."
"Seit vorigem Jahr gibt es die 27jährige Unterrichtsministerin Alida Hadžić”, so HR Inzko, "– in Schweden. Oder Doktor Boris Nemšić, der war Direktor von Austria Telekom, der würde zu Hause nicht einmal in einem Vorort von Sarajevo Telekomchef werden. Oder die Arminka Helić, die gerade von der englischen Königin ins House of Lords berufen wurde. Sie ist jetzt eine Baroness. Zu Hause wäre sie nicht mal Vize-Bürgermeisterin geworden."
Diese Leute müssten zu Hause bleiben – aber dafür müssten entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden.
"Entschuldigen Sie – aber welche Funktion haben Sie heute eigentlich in Bosnien?" fragte Zlatko Bajić an dieser Stelle den HR. Alle Erfolge der internationalen Politik, die Inzko vorher genannt hatte – die gemeinsame Fahne, gemeinsame Autokennzeichen, Pässe usw. - seien auf seine Vorgänger im Amt zurückzuführen.
"Ich bin der oberste Hüter des Friedensvertrages", antwortete Inzko. "Und der Frieden sollte nicht als selbstverständlich genommen werden. Als die Leute während des bosnischen Frühlings vor einem Jahr gesehen haben, dass das Staatspräsidium brennt, haben sie sofort mit den Protesten aufgehört. Sie waren in einem Schockzustand, weil sie sich an den Brand der Nationalbibliothek bei Kriegsbeginn 1992 erinnert gefühlt haben."
Wie sehr der Krieg auch 20 Jahre nach seinem Ende noch immer die Diskussionen über Bosnien beherrscht, zeigte die anschließenden Redebeiträge aus dem Publikum. So erklärte eine Bosnierin, die als Flüchtling nach Deutschland gekommen war, die internationale Gemeinschaft habe mit dem Waffenembargo [13] verboten, sich zu verteidigen. "Die EU hat uns verraten, nur weil wir Muslime sind. Und sie macht bis heute damit weiter." Viele Gäste applaudierten.
Marielusie Beck erwiderte, der Vorwurf sei falsch. Einmal sei das multikulturelle Bosnien nicht nur von Muslimen, sondern auch von Kroaten, Juden, Roma und Serben wie dem Oberkommandanten von Sarajevo, Jovan Divjak, verteidigt worden. Zum Zweiten sei der Grund, weshalb nicht eingegriffen wurde war, dass niemand sich vorstellen konnte, Bodentruppen in den Kampf zu schicken. "Niemand glaubte damals, dass der Krieg durch einen internationalen Militäreinsatz so schnell beendet werden könnte."
Zudem habe es hinter den Kulissen Unstimmigkeiten zwischen Deutschland, England und Frankreich gegeben, die ebenfalls nichts mit der Tatsache zu tun gehabt hätten, dass in Bosnien Muslime lebten. "Auf unselige Weise traf die deutsche Vereinigung zusammen mit der Angst in England und Frankreich, jetzt käme der deutsche Fuß wieder auf den Balkan."
Als Reaktion auf die spürbare Ratlosigkeit aller Anwesenden bei der Frage, wie der Agonie in Bosnien 20 Jahre nach Dayton begegnet werden könne, berichtete Dennis Gratz, er rechne sehr bald mit einem finanziellen Zusammenbruch des Landes.
"Bereits jetzt fließen 94 Prozent der Einnahmen der Föderation in die Aufrechterhaltung des öffentlichen Dienstes und die Rückgabe bestehender Kredite. Wir haben also nur 6 Prozent zur Verfügung - und nehmen zudem ständig neue Kredite auf. Die Leute werden umdenken, wenn nichts mehr funktioniert. Und dann wird auch die Staatengemeinschaft gezwungen sein, zu intervenieren."
Dabei werde es vielleicht nicht zu einer neuen Verfassung kommen – aber zu einer Vielzahl von kleinen Änderungen, die den bosnischen Staat funktionsfähig machen würden. Im Zentrum sieht Gratz eine weitere Dezentralisierung, bei der auch ein Großteil der bosnischen Serben mitmachen würde.
"Daran müssen diejenigen Politiker und Menschen arbeiten, die in Bosnien leben und dort weiter leben wollen. Diese Perspektive ist grau, anstrengend, macht keinen Spaß – aber alles ist besser als eine neue kriegerische Auseinandersetzung."
"Die führenden nationalistischen Politiker in Bosnien sind sich in zwei Dingen einig: in der Liebe zum Geld und der Angst vor dem Knast, " sagte kurz vor Ende der Veranstaltung ein Gast, der in den 1990ern als 12jähriger Flüchtling aus Bosnien nach Deutschland gekommen war.
Er habe eine Botschaft an die Nicht-Bosnier auf dem Podium: "Üben Sie Einfluss und motivieren sie die Menschen, für neue politische Kräfte tätig zu werden." Die zweite Botschaft richtete sich an die Bosnier: "Üben Sie Einfluss und geben sie keiner Partei ihre Stimme, die in den vergangenen 20 Jahren an der Macht war. Sie können mit Sicherheit davon ausgehen, dass das Kriminelle sind."